Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Europas Sackgasse
Österreich erwägt der Flüchtlinge wegen die Schließung des Brenners – Es wäre das symbolische Ende der Europäischen Gemeinschaft
BRENNER - Wo früher am Brenner auf italienischer Seite das Zollamt war, steht heute ein Outlet-Center. Leidlich modern, aus Holz und Glas, verkleidet mit rot lackierten Metallplatten. „Ja, selten, aber hin und wieder“, erklärt die Dame am Infostand des Einkaufstempels, „kommen auch Flüchtlinge“, die sich in den Ladenzeilen mit rund 60 Modegeschäften verlieren.
Ein absurdes Szenario: Jemand flieht aus dem Chaos Syriens oder Libyens, liefert sich einem Schlepper aus, schippert unter Lebensgefahr übers Meer, kämpft sich der Länge nach durch Italien und überwindet, wie auch immer, 1370 Höhenmeter. Was ihm erst den Anblick schneebedeckter Alpengipfel und saftigen Grüns der Hänge beschert. Und dann den vermeintlichen Glanz westlicher Kultur in Form von Anzügen der Marke „Cinque“und Schuhen von „Lloyd“. Lässt er sich nun vom Kaufhausgedudel aus scheppernden Lautsprechern nicht abschrecken, stößt er zwischen „Schiesser“-Unterwäsche und Sport-„Puma“auf eine Tafel mit historischen Brenner-Fotos. König Vittorio Emanuele III., 1921, Hitler mit Mussolini, 1940. Und eines, das zwei lachende Herren zeigt, die einen rotweißen Balken in den Armen halten. Darunter steht: „Am 1. April 1998 trat das Schengener Abkommen in Kraft. Die Grenzbalken wurden abmontiert in Anwesenheit der beiden Innenminister Giorgio Napolitano und Karl Schlögl.“
Zäune statt Schlagbäume Am Grenzposten, nur wenige Meter vom Outlet entfernt, fehlen die Schlagbäume nach wie vor. Dafür könnten rechts und links der Kontrollstellen unüberwindbare Zäune stehen. Und die Zöllner werden dem Flüchtling vielleicht erklären, dass die Abschaffung der Grenzkontrollen nach dem Schengener Abkommen ein Fall für die Geschichtsbücher ist. Und überhaupt: Der Brenner ist dicht. Gute Heimreise.
Es ist gar nicht so unwahrscheinlich, dass es zu solchen oder ähnlichen Geschichten in diesem Sommer kommt. Rhetorik und Maßnahmen legen nahe, dass sich die Alpenrepublik im Falle eines Flüchtlingsandrangs abriegelt – und notfalls den Brenner schließt.
Neben ganz realen Konsequenzen, ist der Pass doch die wichtigste Verbindungsroute Richtung Norden, wäre dies ein Akt von verheerender Symbolik. An einem Ort, der wie keiner für ein vereintes Europa steht. ANZEIGE
Das weiß auch die österreichische Regierung, die in diesen Tagen Handlungsstärke demonstrieren will und angekündigt hat, das Asylrecht zu verschärfen. Weil die Balkanroute geschlossen ist, wird ein Flüchtlingsandrang von Libyen über Italien befürchtet. Die Schätzungen reichen von 200 000 bis zu einer Million Menschen, die in Libyen bereitstünden, alles bisher nur Spekulationen. Wie auch immer, am Brenner will man sie stoppen.
Kein Durchwinken mehr An den Grenzposten auf der Brennerautobahn wurden bereits neue Leitplanken installiert, ebenso wie am Grenzverlauf Vorrichtungen für einen 370 Meter langen Zaun, der nur noch eingehängt werden muss. Die Autos werden auf Tempo 30 runtergebremst und auch die Zugstrecke werde streng kontrolliert, das Durchwinken sei vorbei. Begleitet werden die Aktionen von martialischer Sprache, die Vorbereitungen für die Schließung des Brennerpasses dienten dazu, nicht von Flüchtlingen „überrannt“zu werden, so der neue Innenminister Wolfgang Sobotka (ÖVP) vor einigen Tagen. Inzwi- schen wählt er seine Worte sorgfältiger, doch auch Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil (SPÖ) hat schon angekündigt, „im Extremfall“die Grenzen zu schließen. Und selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) soll für den Fall, dass Italien die Flüchtlinge unregistriert durchs Land lässt, laut „Spiegel“schon gesagt haben: „Dann macht Österreich den Brenner dicht.“
Am alten Brennerpass ist von der politischen Aufregung an diesem Tag mitten in der Woche wenig zu spüren. Carabinieri schlendern genauso wie einige wenige Touristen durch den Ort, kein Flüchtling weit und breit zu sehen. Im Sonnenschein serviert der Wirt eines Cafés einen Espresso mit einer fast fingerdicken goldbraunen Crema. Der Mann, etwa Mitte fünfzig, trägt die Lesebrille auf kahlem Haupt, vergräbt die Hände in tiefen Hosentaschen und sagt: „Unvorstellbar. Unvorstellbar, dass es wieder so wird wie früher.“1947 hätten seine Eltern das Café eröffnet, er sei hier geboren und geblieben, habe über Jahrzehnte erlebt, wie sich die Lastwagen Tag für Tag Kilometer lang stauten. Wie die Menschen warteten, um weiterzukommen. Weil die Grenze eben eine Grenze gewesen sei. Weil sie Länder und Leute trennte. „So darf es nie wieder werden.“
Widersprechen wird ihm da speziell in Südtirol niemand, das sich und den Brenner immer als Brücke zwischen dem europäischen Norden und dem Süden verstanden hat. Als Römer-Pass, als Kaiserstraße, als Kulturstraße, die Goethe, die Dürer, die Mozart passierten. Später, im Zuge der Weltkriege und der Abspaltung von Österreich, als Unrechtsgrenze, als Symbol für das Trennende. Und mit dem Meilenstein Schengen dann als Symbol für den europäischen Einigungsprozess, für das Überwinden des alten nationalstaatlichen Denkens.
„Jetzt aber“, sagt Arno Kompatscher, Landeshauptmann Südtirols, im Telefonat mit der „Schwäbischen Zeitung“, „besteht die Gefahr, dass diese Errungenschaften symbolhaft infrage gestellt werden, durch das Wiedererrichten von Kontrollen und möglicherweise auch Barrieren und Zäunen.“
Kompatscher und seine Landsleute „glauben ganz fest an dieses Europa, das eben diese Grenzen überwindet, ohne in das nationalstaatliche Denken zurückzufallen“. „Grenzkontroll- und Zaunpolitik“, so der Landeshauptmann weiter, „sind aber nichts anderes, als zu sagen: ,Ich löse für mich das Problem, der andere soll schauen, wie er weiterkommt.‘“Dann wiederholt er einen Satz, den er schon früher gesagt hat: „Hier stirbt Europa.“
Auf der anderen Seite der Grenze würde man der Diagnose eines Europas, das gerade in Kleinstaaterei zu zerfallen droht, sogar zustimmen. Die Euphorie für ein vereintes Europa ist dort aber nicht zu spüren.
Gries am Brenner, unweit der Grenze. Mit „Hans von der Brennerhütte“, stellt sich hier der Wirt eines Cafés vor. Auch er Mitte fünfzig, trägt seine Lesebrille auf ergrauten Locken und serviert einen Espresso, dessen Crema mit jener des italienischen Kollegen nicht ganz mithalten
„Hier (am Brenner) stirbt Europa.“
kann. Eine mögliche Schließung des Brenners macht Hans aber auch Sorgen: „Wenn sich hier die Autos stauen, steigt niemand aus, um etwas zu verzehren.“
Klar, Stillstand bedeutet immer Verlust. Auf rund eine Million Euro könnten sich der Stauzeiten am Brenner wegen die Kosten für die Logistikbranche summieren; pro Tag. Verbunden mit noch weit höheren Kosten in Handel und Produktion, die auf ihre Waren warten. Und die Touristen im Sommer auf dem Weg nach Süden werden mit Nerven bezahlen.
Genervt sind die Einzelhändler am alten Brennerpass schon jetzt wegen der Demonstrationen gegen eine mögliche Schließung. An Wochenenden liefern sich Linke und Autonome Scharmützel mit der Polizei, am Donnerstag haben Grüne aus Italien, Deutschland und Österreich in der Grenzschlucht demonstriert, nun wollen sogar die Einzelhändler demonstrieren – gegen die ständigen Demonstrationen. Chaotische Zustände als Spiegelbild von Chaos und Widersprüchen in der Politik. Arno Kompatscher, Landeshauptmann Südtirols, über eine mögliche Schließung des Brenners
Wenn es dunkel wird Hans von der Brennerhütte weiß um diese Widersprüche, wenn er auf die bewaldeten Hügel zeigt, die in Gries den Blick auf die Betonstelzen der Brenner-Autobahn verdecken: „Dort kommen sie rüber, ungefähr 50 Flüchtlinge, jede Nacht.“Unkontrolliert, genauso wie die Nachtzüge Richtung Kufstein nicht kontrolliert würden. „Es gilt also weiter Durchwinken“, sagt der Wirt, aber nur in Dunkelheit.
„Bös“sei man den Flüchtlingen jedoch nicht, betont er. Bös sei man vielmehr der EU, und nicht erst seit der aktuellen Krise: „Dieses ganze Klein-Klein, die unzähligen Vorschriften. Ich, mit meinem kleinen Betrieb, schaffe das nicht mehr.“Und er wolle es auch nicht mehr. Gemäß dem Motto: Soll die EU doch den Bach runtergehen.
Die EU-Müdigkeit beschränkt sich in diesen Tagen nicht auf das Na- delöhr Europas. Das bestätigt einer, der es wissen muss: Karl Schlögl (SPÖ), der einstige Innenminister, der am 1. April 1998 Geschichte schrieb, heute Bürgermeister der Stadtgemeinde Pukersdorf (Niederösterreich) und noch immer engagierter Landespolitiker. „Ja, damals herrschte Aufbruchstimmung“, erinnert er sich an jenen Tag, als am Brenner die rot-weißen Balken fielen. Österreich war erst wenige Jahre in der EU und drängte euphorisch auf die Grenzöffnung. „Der Kanther (damals Deutschlands Innenminister, die Red.) war dagegen“, sagt Schlögl zur „Schwäbischen“. Doch in einem Verhandlungsmarathon habe man von Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) das Ja für die Grenzöffnung eingeholt. Glücklich sei man damals gewesen. Und heute?
„Die Leute nehmen nur noch wahr, dass die EU sich in kleine Sachen einmischt, reguliert und behindert“, sagt der Politiker. „Die großen Probleme aber, wie Flüchtlingskrise, soziale Standards oder Steuern für multinationale Konzerne, die werden nicht gelöst.“
Müssen sie aber, sonst könnte der Brenner am Ende doch das Symbol für die Sackgasse Europas werden. Eines Europas, das sich allein über Währung, Subventionen und Bruttosozialprodukte definiert, aber an einer großen Idee gescheitert ist.
Große Dinge, ob im Guten oder im Schlechten, kündigen sich manchmal im Kleinen an. An der alten Brennergrenze gibt es noch ein weiteres, kleineres Outlet, für Trachtenmode. Es ist im alten Zollamt der Österreicher untergebracht. Dort läuft nun aber der Abverkauf, weil dem Pächter gekündigt wurde. Der Zoll will das Gebäude zurück.