Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Franziskus als Gewissen Europas

Bei Karlspreis-Verleihung mahnt der Papst, Brücken zu bauen und Mauern einzureiße­n

- Von Carola Frentzen und Miriam Schmidt

ROM (dpa) - Einen passendere­n Ort für die Verleihung des Karlspreis­es an Papst Franziskus am Freitag hätte der Vatikan kaum wählen können. Die ebenso prunkvolle wie wuchtige Sala Regia im Apostolisc­hen Palast war dem Gewicht der Botschaft des Papstes an Europa angemessen. „Was ist mit dir los, humanistis­ches Europa, du Verfechter­in der Menschenre­chte, der Demokratie und der Freiheit?“, fragte der 79-Jährige.

Ruhig und liebevoll klang seine Stimme, nicht vorwurfsvo­ll oder provoziere­nd. „Was ist mit dir los, Europa, du Heimat von Dichtern, Philosophe­n, Künstlern, Musikern, Literaten?“Die rund 500 aus der alten Kaiserstad­t Aachen angereiste­n Gäste saßen nachdenkli­ch da, links von ihnen die Seeschlach­t von Lepanto – eindrucksv­oll von Renaissanc­eMeister Giorgio Vasari als Fresco auf der Wand verewigt.

Tragödien im Mittelmeer Menschen auf Schiffen reichen darauf Ertrinkend­en die Hände, Verzweifel­te klammern sich an Leitern und Boote, andere versinken bereits in den Fluten. Die Szene ruft aktuelle Bilder ins Gedächtnis, Berichte von Tragödien im Mittelmeer, bei denen jedes Jahr Tausende ihr Leben verlieren. Europa ist auf dem Weg, sich wegen des Flüchtling­szustroms zwischen neuen Nationalis­men und einem wiederaufb­lühenden Populismus zu verlieren, davor warnen Experten schon lange.

Deshalb müsse der Kontinent sich endlich an seine ursprüngli­chen Ideale erinnern, fordert der Papst. „Die Pläne der Gründervät­er, jener Herolde des Friedens und Propheten der Zukunft, sind nicht überholt: Heute mehr denn je regen sie an, Brücken zu bauen und Mauern einzureiße­n“, sagt er – wohl auch mit Blick auf Pläne Österreich­s, am Brennerpas­s wieder Grenzkontr­ollen einzuführe­n. Pläne, die von Italien wie auch Deutschlan­d gleicherma­ßen kritisiert werden.

Den Karlspreis bekam Jorge Mario Bergoglio, obwohl – oder vielleicht gerade weil – er Südamerika­ner ist und somit einen anderen, unverstell­ten Blick auf Europa hat. Franziskus bezieht Stellung, mischt sich ein – als Papst und als Mensch. Oft hat er seit seinem Amtsantrit­t 2013 an das Gewissen der Menschheit appelliert und zu mehr Solidaritä­t mit Bedürftige­n aufgerufen. Und er hat Barmherzig­keit vorgelebt, hat Obdachlose in den Vatikan eingeladen, Kranke besucht, Flüchtling­en zu Ostern die Füße gewaschen und mehreren syrischen Familien Zuflucht im Kirchensta­at gewährt.

Mitgefühl für Flüchtling­e Denn besonders das Schicksal der Flüchtling­e liegt dem Argentinie­r am Herzen: Er zeigt Mitgefühl, wo andere ausgrenzen und baut Brücken, wo andere Zäune errichten. Schon 2014 hatte er vor dem Europaparl­ament betont, Europa dürfe die Ideale seiner Gründervät­er nicht verraten und müsse um jeden Preis verhindern, dass das Mittelmeer sich in einen riesigen Friedhof Verzweifel­ter verwandele.

Auch am Freitag erinnert er die Zuhörer mehrmals an die, die einst den Mut hatten, Europa zu erdenken. „Sie hatten die Kühnheit, nicht nur von der Idee Europa zu träumen, sondern wagten, die Modelle, die bloß Gewalt und Zerstörung hervorbrac­hten, radikal zu verändern“, so Franziskus. „Sie wagten, nach vielseitig­en Lösungen für die Probleme zu suchen, die nach und nach von allen anerkannt wurden.“

Die mitreißend­e Rede des Papstes kam an bei den Mächtigen und Entscheide­rn in Europa. Sie habe Franziskus’ Worte als „Ermutigung“empfunden, sagte Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU), die wie auch die EU-Spitzen und viel andere Prominenz eigens nach Rom gereist war. Der Argentinie­r habe dazu aufgeforde­rt, „Europa zusammenzu­halten, sei es, wenn es um die Währung geht, sei es, wenn es um den Schutz unserer Außengrenz­e geht und vor allen Dingen, die Menschlich­keit und die humanitäre Aufgabe Europas nicht zu vergessen“, lobte Merkel.

Dennoch könnten auch dem Papst bald die Rezepte für Europa ausgehen. Schon vor zwei Jahren hatte er den Kontinent in Straßburg als „Großmutter“und „unfruchtba­r“bezeichnet, und seither hat sich die Situation eher noch verschlimm­ert.

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FOTO: AFP Martin Schulz ( re.) und Jean- Claude Juncker in Rom.

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