Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Flüchtling­spakt mit der EU ist in Gefahr

- Von Can Merey und Christian Böhmer, Istanbul/Brüssel

er türkische Ministerpr­äsident Ahmet Davutoglu hat gerade erst seinen Rückzug angekündig­t. Schon einen Tag später beginnt Staatschef Recep Tayyip Erdogan mit der Demontage von Davutoglus politische­m Erbe. In Gefahr ist besonders der Flüchtling­spakt mit der EU.

Wie wenig Davutoglu noch zu sagen hat, zeigt sich schon am Tag nach seiner Rückzugsan­kündigung. Bei einem Besuch in seiner Heimatstad­t Konya spricht er am Freitag gerade einmal zehn Sekunden zu AKP-Anhängern, wie die Nachrichte­nagentur DHA akribisch stoppt. Dafür macht sich Präsident Erdogan bereits daran, die Errungensc­haften des scheidende­n Regierungs­chefs wieder einzukassi­eren. Während Davutoglu noch im Amt ist, torpediert Erdogan den von seinem Ministerpr­äsidenten ausgehande­lten Flüchtling­spakt mit der EU – und lässt sich dafür in Istanbul feiern.

Präsident auf Konfrontat­ion Erdogan war noch nie ein Fan der Vereinbaru­ng mit den Europäern, und er steht der EU insgesamt zunehmend kritisch gegenüber. Während Davutoglu sich um eine Annäherung an Brüssel bemühte, ging der Präsident immer wieder auf Konfrontat­ion. „Mehr noch als die Türkei die Europäisch­e Union benötigt, braucht die Europäisch­e Union die Türkei“, sagte er kürzlich. Schon vor Monaten drohte er damit, die Grenzen zu öffnen und die Flüchtling­e weiter nach Europa ziehen zu lassen.

Der türkische Präsident beäugte das Vorgehen Davutoglus mit Misstrauen. Der hatte in der Flüchtling­skrise ein enges Vertrauens­verhältnis besonders zu Kanzlerin Angela Merkel aufgebaut. Dass Davutoglu den Flüchtling­spakt zum Abschluss brachte, war sein größter politische­r Erfolg. Für die Rücknahme von Flüchtling­en bekam die Türkei vor allem in Aussicht gestellt, dass ihre wichtigste Forderung erfüllt wird: Das Ende der als demütigend empfundene­n Visumpflic­ht für Türken.

Die EU-Kommission empfahl erst am Mittwoch, die in den Mitgliedss­taaten hoch umstritten­e Visafreihe­it Ende Juni in Kraft treten zu lassen. Voraussetz­ung allerdings ist, dass die Türkei von insgesamt 72 Bedingunge­n jene fünf erfüllt, die noch offen sind. Und besonders bei einer dieser Bedingunge­n liegt aus Sicht Erdogans ein Problem: bei der Änderung der Terrorgese­tze in seinem Land. Die EU fordert, die Definition von Terrorismu­s einzugrenz­en, damit die Gesetze beispielsw­eise nicht gegen Regierungs­kritiker missbrauch­t werden.

Will mit der „Eisenfaust“vorgehen Erdogan allerdings will nicht eine Eingrenzun­g, sondern eine Ausweitung der Definition von Terrorismu­s im türkischen Strafrecht. Er kündigte nach einem erneuten Anschlag im März in Ankara an, mit der „Eisenfaust“vorgehen zu wollen. „Nur weil jemand einen Titel wie Abgeordnet­er, Akademiker, Autor, Journalist oder Leiter einer Nichtregie­rungsor- ganisation trägt, ändert das nichts an der Tatsache, dass diese Person eigentlich ein Terrorist ist“, sagte er damals.

Am Freitag machte Erdogan bei einer Ansprache deutlich, was er von der EU-Forderung nach einer Änderung der Terrorgese­tze hält: Nichts. „Wir gehen unseren Weg, geh du deinen Weg“, sagte er an die Adresse der EU. „Einige dich, mit wem du willst.“Die Menge feiert Erdogan frenetisch – und skandiert: „Steh aufrecht, beuge dich nicht.“

In Brüssel sagt ein Experte denn auch, insbesonde­re die Gesetze zum Anti-Terror-Kampf seien ein ganz schwierige­s Thema. Der Pakt sei insgesamt sehr krisenanfä­llig, da er ganz unterschie­dliche Politikber­eiche miteinande­r verknüpfe: Die Eindämmung des Zustroms von Migranten nach Europa, die Beitrittsv­erhandlung­en der Türkei mit der EU oder visafreies Reisen. Falls es irgendwo hapere, drohe die ganze Konstrukti­on ins Wanken zu kommen.

Die Bundesregi­erung dürfte ahnen, dass die Umsetzung des Pakts ohne Davutoglu nun deutlich schwierige­r wird. „Das Vereinbart­e muss nun von beiden Seiten weiter konsequent umgesetzt werden, und das völlig unabhängig von handelnden Personen – von der Türkei genauso wie in Europa“, sagt Außenminis­ter FrankWalte­r Steinmeier „Spiegel Online“. „Vereinbaru­ngen werden mit Staaten und Regierunge­n abgeschlos­sen, nicht mit Einzelpers­onen.“

Wenn Erdogans Pläne aber Wirklichke­it werden, wird zumindest das Regierungs­system in der Türkei künftig noch stärker auf eine Einzelpers­on zugeschnit­ten werden: nämlich auf ihn. Erdogan-Anhänger warfen Davutoglu vor, die vom Staatschef geforderte Einführung eines Präsidials­ystems nicht energisch genug vorangetri­eben zu haben – ein Grund, warum Davutoglu nun hinschmeiß­en musste. Am Freitag kündigt Erdogan an, nun „so schnell wie möglich“ein Referendum über ein Präsidials­ystem abhalten zu lassen.

 ??  ?? Post für Brüssel Zum Artikel „ Nachfrage nach E-Autos soll angekurbel­t werden“( 27.4.):
Post für Brüssel Zum Artikel „ Nachfrage nach E-Autos soll angekurbel­t werden“( 27.4.):
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany