Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Flüchtlingspakt mit der EU ist in Gefahr
er türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu hat gerade erst seinen Rückzug angekündigt. Schon einen Tag später beginnt Staatschef Recep Tayyip Erdogan mit der Demontage von Davutoglus politischem Erbe. In Gefahr ist besonders der Flüchtlingspakt mit der EU.
Wie wenig Davutoglu noch zu sagen hat, zeigt sich schon am Tag nach seiner Rückzugsankündigung. Bei einem Besuch in seiner Heimatstadt Konya spricht er am Freitag gerade einmal zehn Sekunden zu AKP-Anhängern, wie die Nachrichtenagentur DHA akribisch stoppt. Dafür macht sich Präsident Erdogan bereits daran, die Errungenschaften des scheidenden Regierungschefs wieder einzukassieren. Während Davutoglu noch im Amt ist, torpediert Erdogan den von seinem Ministerpräsidenten ausgehandelten Flüchtlingspakt mit der EU – und lässt sich dafür in Istanbul feiern.
Präsident auf Konfrontation Erdogan war noch nie ein Fan der Vereinbarung mit den Europäern, und er steht der EU insgesamt zunehmend kritisch gegenüber. Während Davutoglu sich um eine Annäherung an Brüssel bemühte, ging der Präsident immer wieder auf Konfrontation. „Mehr noch als die Türkei die Europäische Union benötigt, braucht die Europäische Union die Türkei“, sagte er kürzlich. Schon vor Monaten drohte er damit, die Grenzen zu öffnen und die Flüchtlinge weiter nach Europa ziehen zu lassen.
Der türkische Präsident beäugte das Vorgehen Davutoglus mit Misstrauen. Der hatte in der Flüchtlingskrise ein enges Vertrauensverhältnis besonders zu Kanzlerin Angela Merkel aufgebaut. Dass Davutoglu den Flüchtlingspakt zum Abschluss brachte, war sein größter politischer Erfolg. Für die Rücknahme von Flüchtlingen bekam die Türkei vor allem in Aussicht gestellt, dass ihre wichtigste Forderung erfüllt wird: Das Ende der als demütigend empfundenen Visumpflicht für Türken.
Die EU-Kommission empfahl erst am Mittwoch, die in den Mitgliedsstaaten hoch umstrittene Visafreiheit Ende Juni in Kraft treten zu lassen. Voraussetzung allerdings ist, dass die Türkei von insgesamt 72 Bedingungen jene fünf erfüllt, die noch offen sind. Und besonders bei einer dieser Bedingungen liegt aus Sicht Erdogans ein Problem: bei der Änderung der Terrorgesetze in seinem Land. Die EU fordert, die Definition von Terrorismus einzugrenzen, damit die Gesetze beispielsweise nicht gegen Regierungskritiker missbraucht werden.
Will mit der „Eisenfaust“vorgehen Erdogan allerdings will nicht eine Eingrenzung, sondern eine Ausweitung der Definition von Terrorismus im türkischen Strafrecht. Er kündigte nach einem erneuten Anschlag im März in Ankara an, mit der „Eisenfaust“vorgehen zu wollen. „Nur weil jemand einen Titel wie Abgeordneter, Akademiker, Autor, Journalist oder Leiter einer Nichtregierungsor- ganisation trägt, ändert das nichts an der Tatsache, dass diese Person eigentlich ein Terrorist ist“, sagte er damals.
Am Freitag machte Erdogan bei einer Ansprache deutlich, was er von der EU-Forderung nach einer Änderung der Terrorgesetze hält: Nichts. „Wir gehen unseren Weg, geh du deinen Weg“, sagte er an die Adresse der EU. „Einige dich, mit wem du willst.“Die Menge feiert Erdogan frenetisch – und skandiert: „Steh aufrecht, beuge dich nicht.“
In Brüssel sagt ein Experte denn auch, insbesondere die Gesetze zum Anti-Terror-Kampf seien ein ganz schwieriges Thema. Der Pakt sei insgesamt sehr krisenanfällig, da er ganz unterschiedliche Politikbereiche miteinander verknüpfe: Die Eindämmung des Zustroms von Migranten nach Europa, die Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der EU oder visafreies Reisen. Falls es irgendwo hapere, drohe die ganze Konstruktion ins Wanken zu kommen.
Die Bundesregierung dürfte ahnen, dass die Umsetzung des Pakts ohne Davutoglu nun deutlich schwieriger wird. „Das Vereinbarte muss nun von beiden Seiten weiter konsequent umgesetzt werden, und das völlig unabhängig von handelnden Personen – von der Türkei genauso wie in Europa“, sagt Außenminister FrankWalter Steinmeier „Spiegel Online“. „Vereinbarungen werden mit Staaten und Regierungen abgeschlossen, nicht mit Einzelpersonen.“
Wenn Erdogans Pläne aber Wirklichkeit werden, wird zumindest das Regierungssystem in der Türkei künftig noch stärker auf eine Einzelperson zugeschnitten werden: nämlich auf ihn. Erdogan-Anhänger warfen Davutoglu vor, die vom Staatschef geforderte Einführung eines Präsidialsystems nicht energisch genug vorangetrieben zu haben – ein Grund, warum Davutoglu nun hinschmeißen musste. Am Freitag kündigt Erdogan an, nun „so schnell wie möglich“ein Referendum über ein Präsidialsystem abhalten zu lassen.