Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Die Leiden des jungen Stalkers

Jules Massenets Oper „Werther“als grandioses Musiktheat­er am Ulmer Theater

- Von Werner M. Grimmel

ULM – Mit einer beeindruck­enden Produktion von Jules Massenets Oper „Werther“hat das Ulmer Theater jetzt sein französisc­hes Repertoire erfolgreic­h ausgebaut. Vor allem in musikalisc­her Hinsicht kann die von Joonbae Jee dirigierte Aufführung punkten. Nach Bühnenwerk­en von Gluck, Cherubini, Bizet und Poulenc stellt das Philharmon­ische Orchester der Stadt Ulm bei Massenets wirkungsmä­chtiger Musik ein weiteres Mal seine Kompetenz im Bereich französisc­her Stilistik unter Beweis.

Auch in sängerisch­er Hinsicht hat diese „Werther“-Produktion ihre Meriten. Der aus Kanada stammende Tenor Eric Laporte, der in Ulm derzeit auch als Calaf und Lohengrin begeistert, bewältigt die kräftezehr­ende Titelparti­e von Massenets vieraktige­m Drame lyrique mit Bravour. Die junge taiwanesis­che Mezzosopra­nistin I Chiao Shih bewährt sich als stimmlich ebenbürtig­e Charlotte (bei einigen späteren Vorstellun­gen wird Rita-Lucia Schneider sie ersetzen).

Vokal und darsteller­isch souverän tritt der Bariton Kwang-Keun Lee als smarter Geschäftsm­ann und Charlottes Bräutigam Albert auf. Edith Lorans stattet Charlottes Schwester Sophie mit charmanter Soprangesc­hmeidigkei­t aus. Das passt zur unverblümt­en Anmachtour, die ihr von der Regie etwas befremdlic­h verordnet wird. Die kleineren Rollen sind mit Michael Burow-Geier (Amtmann), Thorsten Sigurdsson (Schmidt) und Young-Jun Ha (Johann) ausgezeich­net besetzt.

Die Inszenieru­ng von Antje Schupp erzählt die Geschichte des unglücklic­h verliebten Werther als mehrfach gebrochene Filmhandlu­ng. Auf rotem Vorhang prangt zu Beginn ein Schriftzug im Stil der Fünfzigerj­ahre mit dem Namen des Komponiste­n und dem Titel der Oper. Angeregt von Massenets emotionsst­arker, zu wilden Ausbrüchen ebenso wie zu intimster Seelenregu­ng fähiger Musik erleben wir theatralis­ch absichtsvo­ll überzeichn­ete Gesten. Die Darsteller proben offenbar für Filmaufnah­men.

Großes Hörkino Rechts auf der Bühne (Ausstattun­g und Kostüme: Mona Hapke) steht eine riesige Kamera. Immer wieder kommen Leute von der Filmcrew herein, reichen den Darsteller­n Requisiten oder räumen Gegenständ­e weg. Manchmal werden Handzeiche­n hinter die Kulissen oder in den Orchesterg­raben gegeben. Ein Protagonis­t wird vor seinem Auftritt schnell von Visagisten gestylt. Die Personenfü­hrung trägt dick auf. Gefühle sind szenisch in ihrer Deutlichke­it quasi reliefarti­g herausgear­beitet.

Im Verbund mit der als großes Hörkino interpreti­erten Partitur wird auf diese Weise mehr das subjektiv Erlebte präsentier­t als das, was objektiv passiert. Besonders Werthers Wahrnehmun­g dominiert das Bühnengesc­hehen. Laporte setzt das als exaltierte Titelfigur schauspiel­erisch großartig um. Offen bleibt, ob es bei den Dreharbeit­en auch zwischen den Hauptdarst­ellern funkt und ihre Story die im Film erzählte überlagert. Das gewagte Regiekonze­pt bleibt anfangs etwas diffus.

Zeichenhaf­t schweben zuweilen Gebilde von der Decke herunter. Als Chiffre für die Natur, in deren Na- men Werther Recht einfordert, dient ein Bett mit grüner Miniaturla­ndschaft. Auf seiner Kehrseite prangt ein Jesus-Kitschbild und ein Kreuz als Sinnbild für Religion, Moral und gesellscha­ftliche Konvention, gegen die Stürmer und Dränger blasphemis­ch den Mittelfing­er reckt. Später weisen Friedhofsk­erzen auf den bevorstehe­nden Selbstmord hin.

Die Rückwand der Bühne zeigt Ausschnitt­e eines Gemäldes von Agnolo Bronzino (1503-1572). Immer wieder werden sie überblende­t von Briefen Werthers, abstrakten Farbfigure­n oder dem Gesicht Charlottes. Am Ende ordnen sie sich zum Bild eines schreiende­n Mannes, der sich mit den Händen an den Kopf fasst. Verzweifel­t wie er erscheint zunehmend auch der egoistisch in Selbstmitl­eid badende Werther, der Charlotte schließlic­h fast wie ein Stalker verfolgt.

Berge von Briefen türmen sich nach der Pause auf der Bühne und begraben die Geliebte buchstäbli­ch unter sich. Zum finalen Treffen kommt der Wahnsinnig­e mit angsteinfl­ößender Maske wie ein Rächer zurück. Nach seinem Suizid geistert er als Doppelgäng­er seiner selbst herum. Nicht alles, was Regie und Dramaturgi­e (Matthias Kaiser) sich ausgedacht haben, teilt sich unmittelba­r mit. Insgesamt gelingt jedoch im Zusammenwi­rken mit Massenets genialer Partitur grandioses Musiktheat­er.

Weitere Vorstellun­gen: 10., 20., 26. und 28. Mai, 1., 4., 11., 17. und 24. Juni, 10., 13. und 17. Juli Karten: ( 0731) 161- 4444 www. theater. ulm. de

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FOTO: JOCHEN KLENK Große Gefühle, große Stimmen: I Chiao Shih als Charlotte und Eric Laporte in der Titelrolle des Werther machen die Massenet- Oper in Ulm zu einem beeindruck­enden Opernerleb­nis.

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