Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Schnell wachsende Müllhalde im All gefährdet Satelliten
Problem Weltraumschrott: Mindestens 100 000 größere Objekte umkreisen die Erde – Unumkehrbare Kettenreaktion hat begonnen
RAVENSBURG - Nur 5000 Menschen leben auf der sibirischen Halbinsel Tajmyr; es ist eher unwahrscheinlich, dass einer von ihnen am 10. Februar 2009 über seinem Kopf ein Aufleuchten sah, das die Menschheit teuer zu stehen kommen könnte.
In 788 Kilometer Höhe prallte der Militärsatellit „Kosmos 2251“mit dem Kommunikationssatelliten „Iridium 233“zusammen, zwei Objekte mit einer Gesamtmasse von 1,4 Tonnen, die einander mit der Geschwindigkeit von elf Kilometer pro Sekunde trafen. Die Explosionsenergie war wohl mit der von zehn Tonnen TNTSprengstoff vergleichbar.
Bei diesem kosmischen Feuerwerk entstanden rund 2000 Trümmerstücke von fünf bis zehn Zentimetern im Durchmesser und etwa 100 000 weitere, winzige Splitter. Sollte nur einer von ihnen jemals einen funktionierenden Satelliten in der Erdumlaufbahn treffen, es wäre ziemlich sicher dessen Ende.
Die Wissenschaftler hatten im Februar 2009 falsch vorausberechnet, dass sich die zwei Satelliten um 584 Meter verfehlen würden. Doch selbst bei den heute wesentlich genaueren und frühzeitigeren Vorhersagen bleibt es eine extrem schwierige Aufgabe, die Flugkörper im Orbit vor den umherfliegenden, leeren Raketenstufen, Sonden-Teilen, Schutzkappen, abgeplatzten Lackresten und anderen Partikeln zu schützen, mit denen die Menschheit seit dem Sputnik-Start 1957 das erdnahe Weltall zugemüllt hat.
Unsere Zivilisation ist im 21. Jahrhundert auf die vielen verschiedenen Funktionen von Satelliten angewiesen. Navigation, Klimabeobachtung, globale Telekommunikation, Digitalfernsehen, elektronische Aufklärung, Wetterprognosen und Weltraumforschung – all dies wäre ohne die nützlichen Helfer im Kosmos undenkbar. Es gibt allerdings eine zeitlich noch weit entfernte, aber durchaus reale Gefahr, dass die Menschen auf die Satelliten werden verzichten müssen. Oder aber, dass sich deren Betrieb in Zukunft extrem verteuert.
2013 füllte der Thriller „Gravity“weltweit die Kinosäle. Der Blockbuster zeigt die fiktiven Folgen eines realen Szenarios, das 1978 der NasaWissenschaftler Don Kessler entworfen hat. Laut dem „Kessler-Syndrom“erzeugen Kollisionen wie die von „Kosmos“und „Iridium“Trümmer, die ihrerseits neue Kollisionen verursachen, wodurch mehr Müll entsteht und so weiter. Im Film führt die Zerstörung eines russischen Satelliten in einer Kettenreaktion zur Entstehung eines großen Trümmerfeldes, das einen Spaceshuttle und die Internationale Raumstation ISS schwer beschädigt – mit teilweise fatalen Folgen für die Raumfahrer.
Lawine im Weltraum Holger Krag, Leiter des Büros für Raumfahrtrückstände bei der Europäischen Weltraumagentur (Esa), vergleicht dieses Szenario mit einer Lawine im All. „Kessler“habe bereits eingesetzt, warnt der Experte. „Momentan haben wir statistisch gesehen alle fünf Jahre eine Kollision. Wenn es so weitergeht, gibt es in 100 Jahren jedes Jahr eine Kollision. Das ist ein sehr langsamer Prozess, aber das Problem bei Kettenreaktionen ist, dass sie kaum zu stoppen sind.“Krag schätzt, dass heute 750 000 Objekte größer als einen Zentimeter die Erde umrunden und 150 Millionen Teilchen von einem Millimeter und größer. Jeden Tag werden es mehr. Durch ihr Netz aus Sensoren (SSN, Space Surveillance Network) kann die US-Raumfahrtbehörde Nasa lediglich etwa 25 000 größere Objekte in verschiedenen Bahnhöhen verfolgen, allerdings mit erstaunlich hoher Präzision.
Anhand von täglich mehreren Tausend Messungen von Flugbahnen ist das US-Militär imstande, bis zu einer Woche im Voraus eine mögliche Kollision mit Satelliten vorherzusagen, worüber deren Betreiber gewarnt werden. Sie können dann etwa durch eine kurzzeitige Triebwerkszündung den gefährdeten Sa- telliten auf eine höhere Umlaufbahn befördern. Im Darmstädter Esa-Kontrollzentrum müssen Holger Krag und seine Kollegen auf diese Weise pro Satellit ein- bis zweimal im Jahr eingreifen. Jedes Manöver dieser Art verbrauche aber die ohnehin knappen Treibstoffreserven und verkürze die Funktionsdauer der Satelliten, erklärt der Experte.
„Das Problem des Weltraummülls ist quasi unumkehrbar“, sagt Krag. „Aber wir müssen etwas tun, damit es sich für die nächsten Generationen nicht zu sehr verschlimmert.“Der Fachmann sieht die beste Lösung darin, den verbleibenden Treibstoff dazu zu verwenden, um die ausgedienten Satelliten auf tiefere Or- bits (600 Kilometer) zu schieben. Dort würden sie durch die Bremswirkung der Atmosphäre binnen 25 Jahren verglühen. Danach sollte man durch Ablassen des Überdrucks die Explosionen von Satelliten am Ende ihrer Betriebszeit verringern.
Erst nachdem diese einfacheren und billigeren Maßnahmen ergriffen werden, mache das sogenannte „aktive Entfernen“Sinn, sagt Krag. So nennen die Wissenschaftler das Aufräumen im All mit „Putzmaschinen“, die große Trümmer mit einem Roboterarm oder einem ausgeworfenen Netz fassen können, ehe diese in tiefere Bahnen abgeschleppt werden. Bei der Esa arbeitet man bereits an solchen Technologien.