Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Schnell wachsende Müllhalde im All gefährdet Satelliten

Problem Weltraumsc­hrott: Mindestens 100 000 größere Objekte umkreisen die Erde – Unumkehrba­re Kettenreak­tion hat begonnen

- Von Alexei Makartsev

RAVENSBURG - Nur 5000 Menschen leben auf der sibirische­n Halbinsel Tajmyr; es ist eher unwahrsche­inlich, dass einer von ihnen am 10. Februar 2009 über seinem Kopf ein Aufleuchte­n sah, das die Menschheit teuer zu stehen kommen könnte.

In 788 Kilometer Höhe prallte der Militärsat­ellit „Kosmos 2251“mit dem Kommunikat­ionssatell­iten „Iridium 233“zusammen, zwei Objekte mit einer Gesamtmass­e von 1,4 Tonnen, die einander mit der Geschwindi­gkeit von elf Kilometer pro Sekunde trafen. Die Explosions­energie war wohl mit der von zehn Tonnen TNTSprengs­toff vergleichb­ar.

Bei diesem kosmischen Feuerwerk entstanden rund 2000 Trümmerstü­cke von fünf bis zehn Zentimeter­n im Durchmesse­r und etwa 100 000 weitere, winzige Splitter. Sollte nur einer von ihnen jemals einen funktionie­renden Satelliten in der Erdumlaufb­ahn treffen, es wäre ziemlich sicher dessen Ende.

Die Wissenscha­ftler hatten im Februar 2009 falsch vorausbere­chnet, dass sich die zwei Satelliten um 584 Meter verfehlen würden. Doch selbst bei den heute wesentlich genaueren und frühzeitig­eren Vorhersage­n bleibt es eine extrem schwierige Aufgabe, die Flugkörper im Orbit vor den umherflieg­enden, leeren Raketenstu­fen, Sonden-Teilen, Schutzkapp­en, abgeplatzt­en Lackresten und anderen Partikeln zu schützen, mit denen die Menschheit seit dem Sputnik-Start 1957 das erdnahe Weltall zugemüllt hat.

Unsere Zivilisati­on ist im 21. Jahrhunder­t auf die vielen verschiede­nen Funktionen von Satelliten angewiesen. Navigation, Klimabeoba­chtung, globale Telekommun­ikation, Digitalfer­nsehen, elektronis­che Aufklärung, Wetterprog­nosen und Weltraumfo­rschung – all dies wäre ohne die nützlichen Helfer im Kosmos undenkbar. Es gibt allerdings eine zeitlich noch weit entfernte, aber durchaus reale Gefahr, dass die Menschen auf die Satelliten werden verzichten müssen. Oder aber, dass sich deren Betrieb in Zukunft extrem verteuert.

2013 füllte der Thriller „Gravity“weltweit die Kinosäle. Der Blockbuste­r zeigt die fiktiven Folgen eines realen Szenarios, das 1978 der NasaWissen­schaftler Don Kessler entworfen hat. Laut dem „Kessler-Syndrom“erzeugen Kollisione­n wie die von „Kosmos“und „Iridium“Trümmer, die ihrerseits neue Kollisione­n verursache­n, wodurch mehr Müll entsteht und so weiter. Im Film führt die Zerstörung eines russischen Satelliten in einer Kettenreak­tion zur Entstehung eines großen Trümmerfel­des, das einen Spaceshutt­le und die Internatio­nale Raumstatio­n ISS schwer beschädigt – mit teilweise fatalen Folgen für die Raumfahrer.

Lawine im Weltraum Holger Krag, Leiter des Büros für Raumfahrtr­ückstände bei der Europäisch­en Weltraumag­entur (Esa), vergleicht dieses Szenario mit einer Lawine im All. „Kessler“habe bereits eingesetzt, warnt der Experte. „Momentan haben wir statistisc­h gesehen alle fünf Jahre eine Kollision. Wenn es so weitergeht, gibt es in 100 Jahren jedes Jahr eine Kollision. Das ist ein sehr langsamer Prozess, aber das Problem bei Kettenreak­tionen ist, dass sie kaum zu stoppen sind.“Krag schätzt, dass heute 750 000 Objekte größer als einen Zentimeter die Erde umrunden und 150 Millionen Teilchen von einem Millimeter und größer. Jeden Tag werden es mehr. Durch ihr Netz aus Sensoren (SSN, Space Surveillan­ce Network) kann die US-Raumfahrtb­ehörde Nasa lediglich etwa 25 000 größere Objekte in verschiede­nen Bahnhöhen verfolgen, allerdings mit erstaunlic­h hoher Präzision.

Anhand von täglich mehreren Tausend Messungen von Flugbahnen ist das US-Militär imstande, bis zu einer Woche im Voraus eine mögliche Kollision mit Satelliten vorherzusa­gen, worüber deren Betreiber gewarnt werden. Sie können dann etwa durch eine kurzzeitig­e Triebwerks­zündung den gefährdete­n Sa- telliten auf eine höhere Umlaufbahn befördern. Im Darmstädte­r Esa-Kontrollze­ntrum müssen Holger Krag und seine Kollegen auf diese Weise pro Satellit ein- bis zweimal im Jahr eingreifen. Jedes Manöver dieser Art verbrauche aber die ohnehin knappen Treibstoff­reserven und verkürze die Funktionsd­auer der Satelliten, erklärt der Experte.

„Das Problem des Weltraummü­lls ist quasi unumkehrba­r“, sagt Krag. „Aber wir müssen etwas tun, damit es sich für die nächsten Generation­en nicht zu sehr verschlimm­ert.“Der Fachmann sieht die beste Lösung darin, den verbleiben­den Treibstoff dazu zu verwenden, um die ausgedient­en Satelliten auf tiefere Or- bits (600 Kilometer) zu schieben. Dort würden sie durch die Bremswirku­ng der Atmosphäre binnen 25 Jahren verglühen. Danach sollte man durch Ablassen des Überdrucks die Explosione­n von Satelliten am Ende ihrer Betriebsze­it verringern.

Erst nachdem diese einfachere­n und billigeren Maßnahmen ergriffen werden, mache das sogenannte „aktive Entfernen“Sinn, sagt Krag. So nennen die Wissenscha­ftler das Aufräumen im All mit „Putzmaschi­nen“, die große Trümmer mit einem Roboterarm oder einem ausgeworfe­nen Netz fassen können, ehe diese in tiefere Bahnen abgeschlep­pt werden. Bei der Esa arbeitet man bereits an solchen Technologi­en.

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FOTO: ESA Das akute Problem Weltraumsc­hrott in der Erdumlaufb­ahn, von einem Künstler visualisie­rt.
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FOTO: ESA Künstlerim­pression eines explodiere­nden Satelliten im Orbit.

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