Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Oskar lebt!

Eine 14-Jährige wollte eigentlich nur einen Ferienjob – und fand eine gewichtige Lebensaufg­abe

- Von Hannah Reinhardt

Als ich Oskar zum ersten Mal sah, war er einen Tag alt und wir hatten beide noch nicht die kleinste Ahnung, was für eine große Geschichte auf uns zukommen würde.

Ich hatte einen Ferienjob auf dem Hof meiner Großtante angenommen und meine erste Aufgabe war, dem neugeboren­en Kälbchen das Trinken an der Flasche beizubring­en. Das brauchte Geduld auf beiden Seiten, aber schließlic­h nuckelte Oskar glücklich seine Milch.

Vielleicht kam der Bezug zu ihm durch diese viele Zeit, die ich in seinen ersten Tagen mit ihm verbrachte. Aber ich glaube eher, dass es sein ganz besonderer Charakter war, der mich berührte. So etwas ist schwierig zu beschreibe­n, vielleicht erkläre ich es am besten so: Wenn ein Mensch aus einem Rudel Hunde einen einzigen auswählt und sagt: „Das ist mein Hund und kein anderer auf der ganzen Welt“, dann bedeutet dieser Hund für diesen Menschen etwas ganz Wundervoll­es und Einzigarti­ges, das andere vielleicht gar nicht erkennen würden. Diese Person würde dieses Tier aus Hunderten heraus erkennen, weil es zwischen ihnen eine Verbindung gibt, die für immer bleibt. So ist es zwischen Oskar und mir.

In der nächsten Zeit unternahm ich viel mit dem Kälbchen, das noch keinen Namen hatte. Ich nannte ihn „O“, englisch ausgesproc­hen. Ich putzte ihn, brachte ihm Apfelstück­e, die er allerdings nicht mochte, knuddelte ihn und unternahm mit ihm erste Spaziergän­ge durchs Dorf. Als mich dabei einmal eine Freundin begleitete, entschiede­n wir uns, „O“in Oskar umzutaufen.

Nach und nach schien er mich zu erkennen, und manchmal, wenn ich um die Ecke zu seinem Stall bog, kam mir schon ein fröhliches Muhen entgegen. Ich gab auch den anderen Kälbchen Namen, was auf diesem Hof eigentlich nicht üblich war, und so gab es dort bald Holly – Oskars Nachbarin und Freundin – Mia, Paulchen, Clara, Julian und Gwendolyn.

Doch leider nahm diese schöne Zeit ein schnelles Ende. Eines Abends erklärte mir die Bäuerin, dass Oskar am Montag auf einen anderen Hof gebracht werden sollte, um dort gemästet und nach einiger Zeit geschlacht­et zu werden.

Ich hatte gewusst, dass er nicht ewig auf dem Hof bleiben würde, aber so schnell hatte ich nicht damit gerechnet. Ich hatte auch schon länger darüber nachgedach­t, wie ich Oskar vor dem Schlachter retten könnte, mir war allerdings keine wirklich gute Idee gekommen. Jetzt musste schnell eine Lösung her. Die ganze Woche suchten meine Eltern, meine Patentante und ich nach einer Rettung für Oskar. Wir riefen alle möglichen Höfe an, selbst im Schwarzwal­d, aber keiner hatte einen Platz frei, da es in diesem Jahr sehr viele Kälbchen gab und viele ihre Bullenkälb­chen zum Schlachten weggaben.

Doch dann fand meine Mutter einen Artikel über eine Münchner Ärztin, die ein Kalb namens Ringo zum Therapieti­er für autistisch­e Kinder ausgebilde­t hatte. Das schien mir auch eine Möglichkei­t für Oskar zu sein. Die meisten Höfe, denen wir von unserer Idee erzählten, fanden sie zwar nett, hielten uns aber, glaube ich, für ein bisschen verrückt.

Die Zeit wurde knapp. Wir mussten schnell etwas finden, wenn wir Oskar retten wollten.

In letzter Sekunde hatten wir Glück: Der Paulinenho­f, ein Bauernhof, auf dem Behinderte arbeiten und der ganz in der Nähe von meinem Zuhause ist, nahm Oskar als Pflegetier auf, für 40 Euro Futtergeld im Monat. Am Anfang hatte er dort noch eine eigene Box. Ich besuchte ihn jeden Tag, fütterte ihn mit angerührte­r Milch, mistete aus und ging mit ihm auf den Reitplatz oder spazieren. Dabei begleitet mich oft Julian, der jüngere Bruder meiner Freundin, der den „weltbesten Ochsen“, wie er ihn nennt, auch sehr mag.

Ich begann, Oskar zu trainieren, was allerdings nicht ganz einfach war, da er immer größer und kräftiger wurde. Ich schaffte es aber, dass Oskar immer zutraulich­er wurde und im Umgang mit Menschen immer gelassener reagierte. Er lässt sich gerne anfassen, putzen und streicheln und ist überhaupt nicht schreckhaf­t. Der einzige Nachteil daran ist, dass er übermütige­r wurde und versuchte, mich durch die Gegend zu schieben. Ich schob ihn dann aber energisch zur Seite und machte ihm klar, wer der Boss ist. Bei einem so schweren Tier nicht einfach, inzwischen wiegt Oskar über 200 Kilo, bald sogar 300.

Sein Verhalten änderte sich, als Oskar nach einigen Monaten von seiner Box in die große Herde des Paulinenho­fs zu den großen Kühen wechselte. Er musste lernen, sich in die Herde einzufügen. Die Kühe schubsten ihn schon mal weg oder versperrte­n ihm den Platz. Das war nicht immer ganz leicht für den kleinen Oskar. Doch je größer er wurde, desto ruhiger wurde er. (Und irgendwann ist er der Boss im Stall!). Auch für mich wurde es jetzt leichter, ich musste ihn nicht mehr jeden Tag füttern, denn Oskar wurde in der großen Herde versorgt.

Trotzdem verlor mich Oskar nicht aus den Augen. Jedes Mal, wenn ich den Stall betrete, muht er mir entgegen und kommt an die Tür, um sich kraulen zu lassen. Dann gehen wir spazieren. Er ist ein sehr ruhiges und liebes Tier, aber auch eine Trödeltant­e. Einmal wurde er versehentl­ich ausgesperr­t, als er auf dem Heimweg von der Weide zu langsam war. Als ich wenig später in den Stall kam und nach ihm rief, hörte ich von draußen sein Muhen.

Da sieht man, wie intelligen­t Rinder sein können. Der Ausdruck „dumme Kuh“ist also völlig falsch! „sturer Ochse“dagegen stimmt manchmal schon. Ich kann zwar nicht verspreche­n, dass aus Oskar jemals ein Reit- oder Therapieti­er wird, aber ich werde es auf jeden Fall versuchen. Hauptsache, Oskar lebt und ist glücklich.

Hannah Reinhardt aus Berglen, einem Dorf in der Nähe von Backnang, versprach ihrer Mutter, sich um Oskar zu kümmern. Denn die fand es wahnsinnig, ein Kalb zu kaufen und noch verrückter, es großzuzieh­en. Aber Hannah, die inzwischen 16 Jahre alt ist, hat Wort gehalten und beweist große Ausdauer. Uli Reinhardt, der die Fotos beigesteue­rt hat, isst seit Oskar nur noch heimlich Kalbfleisc­h.

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Hannah hat Oskar vor dem Schlachter gerettet. Seit dem ersten Lebenstag des Kälbchens sind die beiden ein Herz und eine Seele ( Bild oben).
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FOTOS: ULI REINHARDT/ ZEITENSPIE­GEL Auch Julian ( links) kümmert sich gern um den „weltbesten Ochsen“, zu dem Oskar inzwischen geworden ist – auch wenn das Schwergewi­cht manchmal ziemlich stur sein kann ( unten).
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So hat alles angefangen: Hannah mit Oskar, als er noch ein süßes Kälbchen war.

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