Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Der Abend der Abrechnung
Der VfB Stuttgart ist nach 41 Jahren Bundesliga so gut wie abgestiegen, seine Anhänger platzen vor Wut
STUTTGART – Das Trauerspiel gegen Mainz ist bereits seit zwei Stunden vorbei, doch der härteste Kampf, die schmerzvollsten Stunden ihres Fußballerlebens, stehen den Stuttgarter Spielern noch bevor. Sie wissen selbst, dass sie zu schwach waren und man sie Versager schimpfen wird, dass die anderen mal wieder besser waren und sie mal wieder nicht gut genug. Sie wissen, dass sie die Menschen, die an sie glaubten, maßlos enttäuscht haben. Aber sie sind auch nur ängstliche, zerbrechliche junge Männer, unvollkommen, keine Millionärsmaschinen, und man darf annehmen, dass sie gerne besser gespielt hätten, aber es ging eben nicht. Gerade haben sie noch selbst geweint, doch es hilft ja nichts, sie müssen jetzt raus vors Stadion, sich der Wut, dem Frust der Fans stellen, weil es ihr Klub so will und weil sie sonst womöglich nicht heil herauskommen aus dieser Mercedes-BenzArena. Es bleibt ihnen keine andere Wahl als sich demütigen zu lassen von diesen treuen Fanatikern, von denen sie gerade noch geliebt wurden und die nun Schuldige suchen, weil sie sich von der Liebe ihres Lebens, ihrem Verein, im Stich gelassen fühlen. Fans, die sie Auge in Auge heulend anschreien: „Was ist denn nur mit euch los? Warum kämpft ihr denn nicht? Wisst ihr eigentlich, dass wir absteigen?“Es ist ein Drama, das sich da am Samstagabend vor der Haupttribüne abspielt.
Das Didavi-Tribunal Nach 41 Jahren Bundesliga-Zugehörigkeit muss der VfB Stuttgart das Oberhaus des deutschen Fußballs wieder verlassen, nur ein Wunder kann ihn am letzten Spieltag in Wolfsburg noch retten, aber daran glaubt nach dem 1:3 am Samstag, der vierten Heimniederlage in Folge (Klubrekord), offenbar keiner mehr: weder die Spieler, die wirken, als kämen sie gerade als einzige Überlebende aus einem verlorenen Krieg zurück, noch diese Testosteron-getränkten UltraFans, bei denen man hofft, dass sie nur getrunken haben und sich fragt, wie sie sich wohl in Konfliktfällen in ihren Familien verhalten.
Aber es hilft ja nichts: Es hat lange gegärt, jetzt ist die Zeit der Abrechnung gekommen für jene, für die so ein Fußballklub der Sinn des Lebens, die Religion, der Grund der Existenz ist. Es ist 19.30 Uhr, die Sonne geht langsam unter über dem Wasen, die Krähen scharen sich und krächzen, als wollten sie sich lustig machen über die Menschen dort unten. Etwa hundert Ultras haben am Tor vor der Haupttribüne ausgeharrt, sie rütteln so lange an den Eisenstäben, bis nicht nur fast alle, sondern alle Spieler erscheinen. Und dann? Dann richten sie sie hin, Auge in Auge, mit Worten. Es ist ein Tribunal. „Daniel Schwaab, du bist ein netter Kerl, aber deine Zeit hier ist leider um, für dich reicht es einfach nicht in der 2. Liga“, sagt ein junger Fan zum Innenverteidiger. Schwaab blickt zu Boden, also wendet sich der Fan Daniel Didavi zu. „Didavi, was willst du noch hier? Verpiss dich, du Lutscher, in Bremen hast du uns mit deinem Pferdekuss im Stich gelassen, da hätte jedes Mädchen weitergespielt. Didavi, du hast schon vor fünf Jahren woanders unterschrieben, wir brauchen dich hier nicht mehr. Wenn du Ehre hast, gehst du.“Auch die Journalisten sollen weg. „Ich find dich, ich sag's dir – tu dein Scheiß-Handy weg. Ich warne dich, ich kenne jeden von euch, ihr Scheiß-Presse-Fuzzies.“Es ist ein wenig wie in der Wilhelma, nur dass die wilden Tiere reden können.
„Außer Kevin könnt ihr alle gehen“, hatten die Fans zuvor im Stadion noch skandiert, gleich nach dem Abpfiff hatten Hunderte den Rasen gestürmt und die Spieler bedrängt. Aber selbst diesem Kevin, Weltmeister Kevin Großkreutz nämlich, der vor der Partie angekündigt hatte, er werde auch in der 2. Liga für den VfB spielen – im Bewusstsein, dass sich der Klub einen gutverdienenden Weltmeister wie ihn dort gar nicht mehr leisten kann –, ist die Szenerie plötzlich ein wenig ungeheuer. Es ist ja auch zu absurd: Gerade mal zehn Einsätze hat der 27-Jährige für den VfB bestritten, eigentlich hat er Dortmund in der Seele und den Füßen, fast zehn Jahre spielte er für den BVB. Die Silhouette der Stadt hat er auf der Wade eingraviert, jeder VfB-Fan kann es sehen, auch in diesem Moment, Großkreutz steckt ja noch im Trikot. Und nun soll er der Retter eines anderen Klubs mit 123-jähriger Tradition sein?
Kevin Großkreutz bleibt schön im Hintergrund, als es darum geht, Erklärungen zu finden. Er hat das 1:1 verschuldet, es war nicht sein Tag, aber offenbar verzeihen ihm die Fans, denn immerhin hat er vor den Sky-Kameras geweint, und das entschuldigt ja vieles. Emotionen zu zeigen lässt nicht unbedingt auf Identifikation schließen, man kann aus vielen Gründen weinen, aus Angst, weil einem gerade wildfremde Menschen auf dem Platz zu Leibe gerückt sind, aus Überforderung, aus Frustration, aus Selbstmitleid. Den Fans sind die genauen Gründe offenbar egal – sie mögen ihn, diesen Großkreutz, sie feiern ihn für seine Tränen, bleiben soll er, genauso wie Christian Gentner, der Kapitän. Der war auch auf dem Platz vorangegangen, hatte das 1:0 geschossen, und auch jetzt beweist er Größe, redet leise und bedächtig mit den Einzelnen, so wie er es auf dem Rasen mit der Masse getan hatte. Gentner ist keiner, der in der Öffentlichkeit weint, er leidet im Stillen. Im Vorjahr, als der VfB dem Unheil nochmal entrann, gewährte er einen Einblick in seine Seele: Der Abstieg wäre eine Katastrophe für ihn, auch die Erinnerung an 2007, als er mit dem VfB Meister wurde, könne das nicht wettmachen, sagte er damals. Gentner kommt aus Nürtingen, der VfB ist seine Heimat, sein Bruder ist Jugendtrainer im Klub. Es muss ihm schwerfallen, die anderen zu trösten. Als Didavi sich gegenüber den Ultras verteidigen will, berührt Gentner ihn zärtlich an der Hand. Lass es einfach, es bringt nichts, soll die Geste besagen. Auch Didavi ist ein Ur-VfBler, in der F-Jugend kam er zum Verein. Er hat zwölf Tore geschossen in dieser Saison, er war mit Abstand der beste Spie- ler. Kürzlich unterschrieb er in Wolfsburg, weil er dort mehr Geld verdienen und größeren Erfolg haben kann. Für die Fans ist Didavi nun der Verräter.
Immerhin: Ein Ahnungsloser ist Didavi nicht, das werfen sie Robin Dutt vor, dem Sportchef. „Ich komm bei dir vorbei, Robin, für ein einwöchiges Praktikum, dann zeige ich dir mal, wie der Job geht. In der freien Wirtschaft würdest du untergehen“, sagt einer. Dutt verweist darauf, wie viel er in seinen 17 Monaten verändert habe, wie viele Köpfe ausgetauscht. Ernst aber nimmt ihn keiner hier am Zaun, auch Dutt hat wie seine Vorgänger Fehler gemacht. Schönen OffensivFußball wollte der frühere DFBSportdirektor spielen lassen, ein Credo des Klubs. Dass man eine erfolgreiche Fußball-Mannschaft von hinten aufbaut, mit gestandenen Verteidigern zum Beispiel, davon wollte Stuttgart in all den Jahren ja nie viel wissen.
Es ist ein trauriger Abend für den VfB, vielleicht der bitterste in seiner Geschichte, vielleicht der fatalste. Vor neun Jahren war Stuttgart noch der Sensationsmeister, 200 000 Menschen standen bei der Siegeskarawane durch die Stadt Spalier. Doch wie das so ist bei Hochzeiten – an Konflikte, an Probleme, an Gefahren denkt niemand. Es war ein schleichender, stufenweiser Niedergang seither, wenn ein Klub absteigt oder ein Unternehmen Pleite geht, liegt das zumeist nicht an einer großen falschen Entscheidung, sondern an tausend klei- nen. Wäre das Leben gerecht, müssten sich nicht nur Didavi und Schwaab vor dem Gitter verantworten, sondern 150 Spieler, drei Präsidenten (Erwin Staudt, Gerd Mäuser, Bernd Wahler), drei Sportchefs (Horst Heldt, Fredi Bobic, Dutt) und insgesamt neun Trainer, die seither im Amt waren, manche, wie Armin Veh und Huub Stevens, sogar zweimal. Der VfB Stuttgart, der 2007 mit seiner Rasselbande um die deutschen Jung-Nationalspieler Mario Gomez, Sami Khedira, Serdar Tasci und Timo Hildebrandt vor einer blendenden Zukunft zu stehen schien, ist tausend Fehlentscheidungen später nur noch ein Schatten seiner Vergangenheit. Noch immer ist er der Verein, der am meisten aktive Bundesliga-Spieler ausgebildet hat. Aber was bringt das, wenn dieser Verein inzwischen große Talente wie Joshua Kimmich oder Bernd Leno verliert, ohne dass sie jemals ein Spiel für die eigenen Profis machten? Und was bringt das, wenn dieser Klub selbst bald nur noch zweitklassig ist?
Wahler hofft noch Bernd Wahler hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Es ist 19.56 Uhr, als der Präsident des VfB vor die Kameras tritt. Kürzlich hat der 57-Jährige noch in Regionalversammlungen überall im Ländle für die Ausgliederung der Profiabteilung geworben – 25 Prozent des Klubs sollten für 70 Millionen Euro verkauft werden, die Weltfirma Mercedes überlegte sich den Einstieg –, nun steht er vor den Trümmern seiner Träume. Ob und wie er die Sicherheit der Spieler noch gewährleisten könne, ob ein Trainerwechsel jetzt noch infrage komme, wird Wahler gefragt, er antwortet brav, er sagt Ja und Nein, aber auch für ihn muss es eine Demütigung sein. War das heute eine Bankrotterklärung für diesen Klub? „Es ist ein ganz schlimmer Tag“, sagt Wahler, „aber solange das letzte Match nicht gespielt ist, wird nicht aufgegeben.“Personelle Konsequenzen schließe er nicht aus, allerdings erst nach dem letzten Spieltag, nach einer Analyse.
Vielleicht sollte er Christian Heidel fragen, den Mainzer Manager, der zwei Stunden zuvor noch bestens gelaunt im Stuttgarter Presseraum saß. Nach einer 24 Jahre langen Erfolgsgeschichte wird Heidel den FSV im Juli auf dem Zenit Richtung Schalke verlassen. Heidel hat aus einem mittelmäßigen und mittellosen Zweitligisten einen mehr als stabilen Erstligisten geformt, der bald wieder international spielen wird. 42 Punkte mehr als Stuttgart haben die Mainzer in den letzten drei Jahren geholt, das Erfolgsrezept sei simpel, sagt Heidel: „Kontinuität bei den handelnden Personen. Du brauchst eine Idee und eine Spielphilosophie, alles andere richtet sich danach. Für ständig wechselnde Ideen und neue Trainer hätten wir gar kein Geld.“Klingt, als könnten die einst so großen Stuttgarter noch viel lernen von diesen einst so kleinen Mainzern.