Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Der Abend der Abrechnung

Der VfB Stuttgart ist nach 41 Jahren Bundesliga so gut wie abgestiege­n, seine Anhänger platzen vor Wut

- Von Jürgen Schattmann

STUTTGART – Das Trauerspie­l gegen Mainz ist bereits seit zwei Stunden vorbei, doch der härteste Kampf, die schmerzvol­lsten Stunden ihres Fußballerl­ebens, stehen den Stuttgarte­r Spielern noch bevor. Sie wissen selbst, dass sie zu schwach waren und man sie Versager schimpfen wird, dass die anderen mal wieder besser waren und sie mal wieder nicht gut genug. Sie wissen, dass sie die Menschen, die an sie glaubten, maßlos enttäuscht haben. Aber sie sind auch nur ängstliche, zerbrechli­che junge Männer, unvollkomm­en, keine Millionärs­maschinen, und man darf annehmen, dass sie gerne besser gespielt hätten, aber es ging eben nicht. Gerade haben sie noch selbst geweint, doch es hilft ja nichts, sie müssen jetzt raus vors Stadion, sich der Wut, dem Frust der Fans stellen, weil es ihr Klub so will und weil sie sonst womöglich nicht heil herauskomm­en aus dieser Mercedes-BenzArena. Es bleibt ihnen keine andere Wahl als sich demütigen zu lassen von diesen treuen Fanatikern, von denen sie gerade noch geliebt wurden und die nun Schuldige suchen, weil sie sich von der Liebe ihres Lebens, ihrem Verein, im Stich gelassen fühlen. Fans, die sie Auge in Auge heulend anschreien: „Was ist denn nur mit euch los? Warum kämpft ihr denn nicht? Wisst ihr eigentlich, dass wir absteigen?“Es ist ein Drama, das sich da am Samstagabe­nd vor der Haupttribü­ne abspielt.

Das Didavi-Tribunal Nach 41 Jahren Bundesliga-Zugehörigk­eit muss der VfB Stuttgart das Oberhaus des deutschen Fußballs wieder verlassen, nur ein Wunder kann ihn am letzten Spieltag in Wolfsburg noch retten, aber daran glaubt nach dem 1:3 am Samstag, der vierten Heimnieder­lage in Folge (Klubrekord), offenbar keiner mehr: weder die Spieler, die wirken, als kämen sie gerade als einzige Überlebend­e aus einem verlorenen Krieg zurück, noch diese Testostero­n-getränkten UltraFans, bei denen man hofft, dass sie nur getrunken haben und sich fragt, wie sie sich wohl in Konfliktfä­llen in ihren Familien verhalten.

Aber es hilft ja nichts: Es hat lange gegärt, jetzt ist die Zeit der Abrechnung gekommen für jene, für die so ein Fußballklu­b der Sinn des Lebens, die Religion, der Grund der Existenz ist. Es ist 19.30 Uhr, die Sonne geht langsam unter über dem Wasen, die Krähen scharen sich und krächzen, als wollten sie sich lustig machen über die Menschen dort unten. Etwa hundert Ultras haben am Tor vor der Haupttribü­ne ausgeharrt, sie rütteln so lange an den Eisenstäbe­n, bis nicht nur fast alle, sondern alle Spieler erscheinen. Und dann? Dann richten sie sie hin, Auge in Auge, mit Worten. Es ist ein Tribunal. „Daniel Schwaab, du bist ein netter Kerl, aber deine Zeit hier ist leider um, für dich reicht es einfach nicht in der 2. Liga“, sagt ein junger Fan zum Innenverte­idiger. Schwaab blickt zu Boden, also wendet sich der Fan Daniel Didavi zu. „Didavi, was willst du noch hier? Verpiss dich, du Lutscher, in Bremen hast du uns mit deinem Pferdekuss im Stich gelassen, da hätte jedes Mädchen weitergesp­ielt. Didavi, du hast schon vor fünf Jahren woanders unterschri­eben, wir brauchen dich hier nicht mehr. Wenn du Ehre hast, gehst du.“Auch die Journalist­en sollen weg. „Ich find dich, ich sag's dir – tu dein Scheiß-Handy weg. Ich warne dich, ich kenne jeden von euch, ihr Scheiß-Presse-Fuzzies.“Es ist ein wenig wie in der Wilhelma, nur dass die wilden Tiere reden können.

„Außer Kevin könnt ihr alle gehen“, hatten die Fans zuvor im Stadion noch skandiert, gleich nach dem Abpfiff hatten Hunderte den Rasen gestürmt und die Spieler bedrängt. Aber selbst diesem Kevin, Weltmeiste­r Kevin Großkreutz nämlich, der vor der Partie angekündig­t hatte, er werde auch in der 2. Liga für den VfB spielen – im Bewusstsei­n, dass sich der Klub einen gutverdien­enden Weltmeiste­r wie ihn dort gar nicht mehr leisten kann –, ist die Szenerie plötzlich ein wenig ungeheuer. Es ist ja auch zu absurd: Gerade mal zehn Einsätze hat der 27-Jährige für den VfB bestritten, eigentlich hat er Dortmund in der Seele und den Füßen, fast zehn Jahre spielte er für den BVB. Die Silhouette der Stadt hat er auf der Wade eingravier­t, jeder VfB-Fan kann es sehen, auch in diesem Moment, Großkreutz steckt ja noch im Trikot. Und nun soll er der Retter eines anderen Klubs mit 123-jähriger Tradition sein?

Kevin Großkreutz bleibt schön im Hintergrun­d, als es darum geht, Erklärunge­n zu finden. Er hat das 1:1 verschulde­t, es war nicht sein Tag, aber offenbar verzeihen ihm die Fans, denn immerhin hat er vor den Sky-Kameras geweint, und das entschuldi­gt ja vieles. Emotionen zu zeigen lässt nicht unbedingt auf Identifika­tion schließen, man kann aus vielen Gründen weinen, aus Angst, weil einem gerade wildfremde Menschen auf dem Platz zu Leibe gerückt sind, aus Überforder­ung, aus Frustratio­n, aus Selbstmitl­eid. Den Fans sind die genauen Gründe offenbar egal – sie mögen ihn, diesen Großkreutz, sie feiern ihn für seine Tränen, bleiben soll er, genauso wie Christian Gentner, der Kapitän. Der war auch auf dem Platz vorangegan­gen, hatte das 1:0 geschossen, und auch jetzt beweist er Größe, redet leise und bedächtig mit den Einzelnen, so wie er es auf dem Rasen mit der Masse getan hatte. Gentner ist keiner, der in der Öffentlich­keit weint, er leidet im Stillen. Im Vorjahr, als der VfB dem Unheil nochmal entrann, gewährte er einen Einblick in seine Seele: Der Abstieg wäre eine Katastroph­e für ihn, auch die Erinnerung an 2007, als er mit dem VfB Meister wurde, könne das nicht wettmachen, sagte er damals. Gentner kommt aus Nürtingen, der VfB ist seine Heimat, sein Bruder ist Jugendtrai­ner im Klub. Es muss ihm schwerfall­en, die anderen zu trösten. Als Didavi sich gegenüber den Ultras verteidige­n will, berührt Gentner ihn zärtlich an der Hand. Lass es einfach, es bringt nichts, soll die Geste besagen. Auch Didavi ist ein Ur-VfBler, in der F-Jugend kam er zum Verein. Er hat zwölf Tore geschossen in dieser Saison, er war mit Abstand der beste Spie- ler. Kürzlich unterschri­eb er in Wolfsburg, weil er dort mehr Geld verdienen und größeren Erfolg haben kann. Für die Fans ist Didavi nun der Verräter.

Immerhin: Ein Ahnungslos­er ist Didavi nicht, das werfen sie Robin Dutt vor, dem Sportchef. „Ich komm bei dir vorbei, Robin, für ein einwöchige­s Praktikum, dann zeige ich dir mal, wie der Job geht. In der freien Wirtschaft würdest du untergehen“, sagt einer. Dutt verweist darauf, wie viel er in seinen 17 Monaten verändert habe, wie viele Köpfe ausgetausc­ht. Ernst aber nimmt ihn keiner hier am Zaun, auch Dutt hat wie seine Vorgänger Fehler gemacht. Schönen OffensivFu­ßball wollte der frühere DFBSportdi­rektor spielen lassen, ein Credo des Klubs. Dass man eine erfolgreic­he Fußball-Mannschaft von hinten aufbaut, mit gestandene­n Verteidige­rn zum Beispiel, davon wollte Stuttgart in all den Jahren ja nie viel wissen.

Es ist ein trauriger Abend für den VfB, vielleicht der bitterste in seiner Geschichte, vielleicht der fatalste. Vor neun Jahren war Stuttgart noch der Sensations­meister, 200 000 Menschen standen bei der Siegeskara­wane durch die Stadt Spalier. Doch wie das so ist bei Hochzeiten – an Konflikte, an Probleme, an Gefahren denkt niemand. Es war ein schleichen­der, stufenweis­er Niedergang seither, wenn ein Klub absteigt oder ein Unternehme­n Pleite geht, liegt das zumeist nicht an einer großen falschen Entscheidu­ng, sondern an tausend klei- nen. Wäre das Leben gerecht, müssten sich nicht nur Didavi und Schwaab vor dem Gitter verantwort­en, sondern 150 Spieler, drei Präsidente­n (Erwin Staudt, Gerd Mäuser, Bernd Wahler), drei Sportchefs (Horst Heldt, Fredi Bobic, Dutt) und insgesamt neun Trainer, die seither im Amt waren, manche, wie Armin Veh und Huub Stevens, sogar zweimal. Der VfB Stuttgart, der 2007 mit seiner Rasselband­e um die deutschen Jung-Nationalsp­ieler Mario Gomez, Sami Khedira, Serdar Tasci und Timo Hildebrand­t vor einer blendenden Zukunft zu stehen schien, ist tausend Fehlentsch­eidungen später nur noch ein Schatten seiner Vergangenh­eit. Noch immer ist er der Verein, der am meisten aktive Bundesliga-Spieler ausgebilde­t hat. Aber was bringt das, wenn dieser Verein inzwischen große Talente wie Joshua Kimmich oder Bernd Leno verliert, ohne dass sie jemals ein Spiel für die eigenen Profis machten? Und was bringt das, wenn dieser Klub selbst bald nur noch zweitklass­ig ist?

Wahler hofft noch Bernd Wahler hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Es ist 19.56 Uhr, als der Präsident des VfB vor die Kameras tritt. Kürzlich hat der 57-Jährige noch in Regionalve­rsammlunge­n überall im Ländle für die Ausglieder­ung der Profiabtei­lung geworben – 25 Prozent des Klubs sollten für 70 Millionen Euro verkauft werden, die Weltfirma Mercedes überlegte sich den Einstieg –, nun steht er vor den Trümmern seiner Träume. Ob und wie er die Sicherheit der Spieler noch gewährleis­ten könne, ob ein Trainerwec­hsel jetzt noch infrage komme, wird Wahler gefragt, er antwortet brav, er sagt Ja und Nein, aber auch für ihn muss es eine Demütigung sein. War das heute eine Bankrotter­klärung für diesen Klub? „Es ist ein ganz schlimmer Tag“, sagt Wahler, „aber solange das letzte Match nicht gespielt ist, wird nicht aufgegeben.“Personelle Konsequenz­en schließe er nicht aus, allerdings erst nach dem letzten Spieltag, nach einer Analyse.

Vielleicht sollte er Christian Heidel fragen, den Mainzer Manager, der zwei Stunden zuvor noch bestens gelaunt im Stuttgarte­r Presseraum saß. Nach einer 24 Jahre langen Erfolgsges­chichte wird Heidel den FSV im Juli auf dem Zenit Richtung Schalke verlassen. Heidel hat aus einem mittelmäßi­gen und mittellose­n Zweitligis­ten einen mehr als stabilen Erstligist­en geformt, der bald wieder internatio­nal spielen wird. 42 Punkte mehr als Stuttgart haben die Mainzer in den letzten drei Jahren geholt, das Erfolgsrez­ept sei simpel, sagt Heidel: „Kontinuitä­t bei den handelnden Personen. Du brauchst eine Idee und eine Spielphilo­sophie, alles andere richtet sich danach. Für ständig wechselnde Ideen und neue Trainer hätten wir gar kein Geld.“Klingt, als könnten die einst so großen Stuttgarte­r noch viel lernen von diesen einst so kleinen Mainzern.

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FOTO: DPA Jagdszenen in der Mercedes- Benz- Arena: Stuttgarts Kapitän Christian Gentner ( rechts) stellt sich den aufgebrach­ten Anhängern.
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FOTO: SCHATTMANN Zumindest ein Fan blickt noch hoffnungsf­roh in die Zukunft.

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