Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Polen gehen für Europa auf die Straße
Kritik an Regierung Szydlo bei größter Demonstration seit Jahrzehnten in Warschau
WARSCHAU( dpa) - Über Parteigrenzen hinweg haben Polen am Samstag ihre Zugehörigkeit zu Europa demonstriert und gegen die Politik ihrer nationalkonservativen Regierung protestiert. Es war die wohl größte Kundgebung seit dem Zusammenbruch des Kommunismus.
Der Gesang könnte angesichts der Menschenmassen kräftiger sein, aber der Text ist gut zu verstehen: „Freiheit, ich liebe und verstehe die Freiheit, ich lasse mir meine Freiheit nicht nehmen.“Im Takt werden blaue Europafahnen und weiß-rote polnische Flaggen geschwenkt. Über mehrere Kilometer zieht sich die Menschenmenge durch die Warschauer Innenstadt. An jeder großen Straßenkreuzung warten Hunderte Menschen, um sich anzuschließen.
„Das ist die größte Demonstration im freien Polen“, ruft Ex-Außenminister Grzegorz Schetyna den Menschen auf dem Pilsudski-Platz zu. Nach Angaben der Warschauer Stadtverwaltung sind 240 000 Teilnehmer zusammengekommen. Die Polizei schätzt die Zahlen deutlich niedriger. Aber es sind sehr viele.
Protestbewegung lebt Als vor wenigen Wochen bei einer Demonstration gegen das Polizeigesetz nur wenige Hundert Menschen auftauchten, glaubte mancher schon an das Ende der Protestbewegung gegen die europakritische Regierung von Beata Szydlo. Doch der neue Massenprotest zeigt: Sie ist höchst lebendig. Es ist eine ganz große Koalition, die sich an diesem Samstag zusammengefunden hat: Feministinnen und Rentner, Anzugträger und Alternative, Schwule mit der Regenbogenfahne und Ex-Präsident Bronislaw Komorowski, Linke und Konservative. Sie alle eint das Motto: „Wir sind und bleiben in Europa.“
Und sie sind geeint durch die Sorge, dass die Politik der Rechtsregierung Polen nicht nur geografisch an den Rand Europas treibt. Die neuen Gesetze über das Verfassungsge- richt, über die Medien, über die Überwachungsmöglichkeiten der Polizei – viele sehen in ihnen eine Bedrohung des Rechtsstaates.
„Ich konnte hier heute nicht fehlen“, sagt Komorowski. „Wir sind nicht hier, weil wir uns zusammen so toll fühlen, sondern weil es Polen schlecht geht. Wir alle sind heute hier im großen Namen der Freiheit.“
Komorowskis Niederlage bei der Präsidentenwahl gegen Andrzej Duda hatte vor einem Jahr das eingeleitet, was die Anhänger der Regierung von Recht und Gerechtigkeit (PiS) den „guten Wandel“nennen und ihre Gegner eine Gefahr für den demokratischen Rechtsstaat.
„Es gibt Zeiten, da muss man zusammenstehen“, ist nicht nur auf der Rednerbühne zu hören. „Die politischen Unterschiede zwischen uns sind ziemlich egal, wenn diese Regierung die Gerichte und Medien knebelt“, sagt der 68-jährige Jozef Szczepanski, der mit seinem Enkel zur Demonstration gekommen ist.
Lukasz bestaunt den Mannschaftswagen der einstigen kommunistischen Sondermiliz Zomo, der wie ein Requisit am Straßenrand steht, neben einem echten Polizeifahrzeug. Szczepanski lacht bitter. „Ich erinnere mich an diese ZomoWagen aus der Zeit des Kriegsrechts, wenn wir zu einer nicht genehmigten Kundgebung gingen. Mein Enkel soll das niemals erleben.“
An der Heiligkreuzkirche stehen Teilnehmer einer Gegendemonstration, die zuvor gegen die EU protestiert hatten. Auf der Balustrade der Kirche balanciert eine Madonnenfigur. „Kommt mit uns!“rufen die Demonstranten auf der Straße.
Demokratie ist nicht bedroht Im öffentlich-rechtlichen Fernsehsender TVP werden nur stumme Bilder von der Demonstration gezeigt. Stattdessen wird live zum InternetChat des PiS-Parteichefs Jaroslaw Kaczynski geschaltet. „Das macht mir keine Sorgen“, sagt Kaczynski zu den Protesten. Er fügt hinzu: „Es gibt keine Bedrohung der Demokratie in Polen.“Zu Europa äußert sich der Parteichef, der als der eigentlich starke Mann im Lande gilt, ebenfalls: Es müssten noch positive Veränderungen her und Polen wolle seinen Teil beitragen. „Aber vor allem werden wir die polnische Souveränität verteidigen, vor allem in Wertefragen, damit Polen da eigenständig ist.“
„Die PiS achtet die Werte Europas nicht“, sagt dagegen auf der Kundgebung Kamila Gasiuk-Pihowicz von der liberalkonservativen Partei Nowoczesna (Die Moderne). Sie befürchtet, Polen könne unter den Nationalkonservativen den Anschluss an den Rest der EU verlieren. „Bisher saßen wir in der ersten Klasse des ,Europa-Express’. Jetzt sind wir im Güterwaggon.“