Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Die Bestie wütet weiter
In Kanada dehnen sich die Waldbrände aus – Evakuierte finden in Edmonton ein vorläufiges Zuhause
EDMONTON - Am Flughafen von Edmonton und im Terminalgebäude geht es am Wochenende lebhaft zu: Urlauber geben Koffer auf, Pendler kommen von Geschäftsreisen zurück, Familien treffen sich wieder. „Ort der glücklichen Wiederkehr“prangt in großen Buchstaben an der Wand der Empfangshalle. Es ist ein Werbeslogan, der gut gemeint ist, der in diesen Tagen der Verzweiflung, Trauer und Not aber so gar nicht zu passen scheint.
Tatsächlich ist an diesem Morgen in der Empfangshalle von Glück nur wenig zu spüren. Gerade ist ein Charterflug der Ölfirma Suncor angekommen: Männer warten am Gepäckband mit leerem Blick auf die wenigen Habseligkeiten, die sie in der Eile mitnehmen konnten. Ölarbeiter in Blaumännern knien auf dem Boden und weinen ungehemmt. Mitarbeiter des Roten Kreuzes eilen herbei und nehmen die schluchzenden Menschen in die Arme.
Viertel der Ölproduktion fällt weg Die Passagiere gehören zu jenen knapp 90 000 Menschen, die in den letzten Tagen vor den riesigen Waldbränden im Norden der Provinz Alberta, die in Kanada „die Bestie“genannt werden, fliehen mussten. Manche wurden von der Polizei in Autokonvois aus der besonders schwer getroffenen Stadt Fort McMurray ins 400 Kilometer südlich gelegene Edmonton gebracht. 1500 Menschen waren es allein an diesem Wochenende. Andere wurden aus Camps der Ölfirmen evakuiert und mit Chartermaschinen ausgeflogen.
Viele der Evakuierten haben alles, was sie besitzen, verloren. „Ich habe keine Ahnung, ob mein Haus noch steht oder ob mein Hund noch lebt“, meint Greg, ein junger muskulöser Mann mit Baseballkappe, der seit einigen Jahren für Suncor in der Firebag-Mine nördlich von Fort McMurray arbeitet. Am Freitag hat der Ölkonzern die Produktionsstätte und die dazugehörigen Pipelines aus Sicherheitsgründen geschlossen und alle Mitarbeiter ausgeflogen.
Auch andere Konzerne haben ihre Ölproduktion mittlerweile eingestellt. Der Syncrude-Konzern allein hat am Wochende knapp 5000 Mitarbeiter ausgeflogen. Etwa ein Viertel der kanadischen Ölproduktion ist durch das Feuer bereits ausgefallen. Kanadische Medien sprechen von der teuersten Katastrophe in der Geschichte ihres Landes – auch wenn die bis zu 30 Meter hohen Flammen zum Glück bislang noch keine der Produktionsstätten erreicht haben.
„Es war traumatisch. Der Himmel war pechschwarz und ich konnte kaum noch atmen“, berichtet Greg während er auf sein Gepäck wartet. Fort McMurray hat er nicht mehr gesehen, seit die Feuer vor einer Woche ausgebrochen waren. Tagelang hatte er in einem Camp im Norden ausgeharrt und gehofft, die Feuersbrunst würde sich legen. Doch das Gegenteil ist passiert. Wind und Trockenheit haben die Flammen mit rasen- der Geschwindigkeit weiter angefacht. Die vom Feuer betroffene Fläche summiert sich mittlerweile auf etwa 2000 Quadratkilometer, das ist drei Mal so groß wie die Millionenmetropole Toronto.
Seit dem Ausbruch des Feuers haben sich bei den Behörden von Edmonton schon über 10 000 Menschen aus Fort McMurray gemeldet und um Hilfe gebeten. Manche kommen in Gastfamilien unter, andere in eigens vom Roten Kreuz eingerichteten Notquartieren.
Vor den Toren des Flughafens warten an diesem Tag Dutzende Busse, die Männer wie Greg in das „Northlands Center“bringen, eine riesige Veranstaltungsarena in der Stadt, in der normalerweise Rockkonzerte oder Eishockeyspiele stattfinden. Jetzt beherbergt die Halle bis zu 1900 Menschen. Sie schlafen auf Klappbetten oder in Wohncontainern auf dem Parkplatz. Vertreter von Banken und Versicherungen haben provisorische Büros aufgebaut, damit die Menschen an ihr Geld kommen. Die Regierung von Alberta hat jedem Betroffenen pauschal 1250 Dollar versprochen, damit sie in den nächsten Tagen über die Runden kommen.
2000 Häuser sind verloren „Das Schlimmste ist die ewige Warterei und die Ungewissheit, wann wir wieder zurück nach Hause dürfen“, berichtet Laura, die in Fort McMurray an einer Tankstelle gearbeitet hat. Ob es die überhaupt noch gibt, weiß sie nicht. Als vor fünf Tagen die Evakuierungsanordnung der Behörden kam, hatte Laura weniger als eine halbe Stunde Zeit, das Nötigste einzupacken. Zwei Taschen mit Klamotten und persönlichen Gegenständen wie ihr Tagebuch sind ihr geblieben.
Wann Laura nach Fort McMurray zurückkehren kann, ist noch nicht klar. 2000 Häuser sind unwiderbringlich verloren. Zwar haben die Winde mittlerweile gedreht und treiben das Feuer in Richtung Nordosten, von der Stadt weg. Doch der von allen erhoffte Regen ist nicht in Sicht und Experten sagen, das Schlimmste sei noch längst nicht vorbei. Auch die Ölquellen sind weiter bedroht. Experten rechnen nach einem Bericht des Fernsehsenders CTV damit, dass das Feuer noch Wochen lodern wird. Die Bestie wütet weiter.