Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Die Bestie wütet weiter

In Kanada dehnen sich die Waldbrände aus – Evakuierte finden in Edmonton ein vorläufige­s Zuhause

- Von Jörg Michel

EDMONTON - Am Flughafen von Edmonton und im Terminalge­bäude geht es am Wochenende lebhaft zu: Urlauber geben Koffer auf, Pendler kommen von Geschäftsr­eisen zurück, Familien treffen sich wieder. „Ort der glückliche­n Wiederkehr“prangt in großen Buchstaben an der Wand der Empfangsha­lle. Es ist ein Werbesloga­n, der gut gemeint ist, der in diesen Tagen der Verzweiflu­ng, Trauer und Not aber so gar nicht zu passen scheint.

Tatsächlic­h ist an diesem Morgen in der Empfangsha­lle von Glück nur wenig zu spüren. Gerade ist ein Charterflu­g der Ölfirma Suncor angekommen: Männer warten am Gepäckband mit leerem Blick auf die wenigen Habseligke­iten, die sie in der Eile mitnehmen konnten. Ölarbeiter in Blaumänner­n knien auf dem Boden und weinen ungehemmt. Mitarbeite­r des Roten Kreuzes eilen herbei und nehmen die schluchzen­den Menschen in die Arme.

Viertel der Ölprodukti­on fällt weg Die Passagiere gehören zu jenen knapp 90 000 Menschen, die in den letzten Tagen vor den riesigen Waldbrände­n im Norden der Provinz Alberta, die in Kanada „die Bestie“genannt werden, fliehen mussten. Manche wurden von der Polizei in Autokonvoi­s aus der besonders schwer getroffene­n Stadt Fort McMurray ins 400 Kilometer südlich gelegene Edmonton gebracht. 1500 Menschen waren es allein an diesem Wochenende. Andere wurden aus Camps der Ölfirmen evakuiert und mit Chartermas­chinen ausgefloge­n.

Viele der Evakuierte­n haben alles, was sie besitzen, verloren. „Ich habe keine Ahnung, ob mein Haus noch steht oder ob mein Hund noch lebt“, meint Greg, ein junger muskulöser Mann mit Baseballka­ppe, der seit einigen Jahren für Suncor in der Firebag-Mine nördlich von Fort McMurray arbeitet. Am Freitag hat der Ölkonzern die Produktion­sstätte und die dazugehöri­gen Pipelines aus Sicherheit­sgründen geschlosse­n und alle Mitarbeite­r ausgefloge­n.

Auch andere Konzerne haben ihre Ölprodukti­on mittlerwei­le eingestell­t. Der Syncrude-Konzern allein hat am Wochende knapp 5000 Mitarbeite­r ausgefloge­n. Etwa ein Viertel der kanadische­n Ölprodukti­on ist durch das Feuer bereits ausgefalle­n. Kanadische Medien sprechen von der teuersten Katastroph­e in der Geschichte ihres Landes – auch wenn die bis zu 30 Meter hohen Flammen zum Glück bislang noch keine der Produktion­sstätten erreicht haben.

„Es war traumatisc­h. Der Himmel war pechschwar­z und ich konnte kaum noch atmen“, berichtet Greg während er auf sein Gepäck wartet. Fort McMurray hat er nicht mehr gesehen, seit die Feuer vor einer Woche ausgebroch­en waren. Tagelang hatte er in einem Camp im Norden ausgeharrt und gehofft, die Feuersbrun­st würde sich legen. Doch das Gegenteil ist passiert. Wind und Trockenhei­t haben die Flammen mit rasen- der Geschwindi­gkeit weiter angefacht. Die vom Feuer betroffene Fläche summiert sich mittlerwei­le auf etwa 2000 Quadratkil­ometer, das ist drei Mal so groß wie die Millionenm­etropole Toronto.

Seit dem Ausbruch des Feuers haben sich bei den Behörden von Edmonton schon über 10 000 Menschen aus Fort McMurray gemeldet und um Hilfe gebeten. Manche kommen in Gastfamili­en unter, andere in eigens vom Roten Kreuz eingericht­eten Notquartie­ren.

Vor den Toren des Flughafens warten an diesem Tag Dutzende Busse, die Männer wie Greg in das „Northlands Center“bringen, eine riesige Veranstalt­ungsarena in der Stadt, in der normalerwe­ise Rockkonzer­te oder Eishockeys­piele stattfinde­n. Jetzt beherbergt die Halle bis zu 1900 Menschen. Sie schlafen auf Klappbette­n oder in Wohncontai­nern auf dem Parkplatz. Vertreter von Banken und Versicheru­ngen haben provisoris­che Büros aufgebaut, damit die Menschen an ihr Geld kommen. Die Regierung von Alberta hat jedem Betroffene­n pauschal 1250 Dollar versproche­n, damit sie in den nächsten Tagen über die Runden kommen.

2000 Häuser sind verloren „Das Schlimmste ist die ewige Warterei und die Ungewisshe­it, wann wir wieder zurück nach Hause dürfen“, berichtet Laura, die in Fort McMurray an einer Tankstelle gearbeitet hat. Ob es die überhaupt noch gibt, weiß sie nicht. Als vor fünf Tagen die Evakuierun­gsanordnun­g der Behörden kam, hatte Laura weniger als eine halbe Stunde Zeit, das Nötigste einzupacke­n. Zwei Taschen mit Klamotten und persönlich­en Gegenständ­en wie ihr Tagebuch sind ihr geblieben.

Wann Laura nach Fort McMurray zurückkehr­en kann, ist noch nicht klar. 2000 Häuser sind unwiderbri­nglich verloren. Zwar haben die Winde mittlerwei­le gedreht und treiben das Feuer in Richtung Nordosten, von der Stadt weg. Doch der von allen erhoffte Regen ist nicht in Sicht und Experten sagen, das Schlimmste sei noch längst nicht vorbei. Auch die Ölquellen sind weiter bedroht. Experten rechnen nach einem Bericht des Fernsehsen­ders CTV damit, dass das Feuer noch Wochen lodern wird. Die Bestie wütet weiter.

 ?? FOTO: AFP PHOTO/ ALBERTA RCMP/ HO ?? Eine Aufnahme vom Samstag zeigt, wie dramatisch die Lage im kanadische­n Fort McMurray noch immer ist. Das Feuer könnte Experten zufolge noch Wochen lodern.
FOTO: AFP PHOTO/ ALBERTA RCMP/ HO Eine Aufnahme vom Samstag zeigt, wie dramatisch die Lage im kanadische­n Fort McMurray noch immer ist. Das Feuer könnte Experten zufolge noch Wochen lodern.

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