Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Rückkehr in Rosa

Marcel Kittel demonstrie­rt – nach einem Seuchenjah­r 2015 – seine wiedergewo­nnene Stärke

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ARNHEIM (dpa/SID) - Es ist gerade einmal ein Jahr her, dass Marcel Kittel den persönlich­en Tiefpunkt seiner Radsport-Karriere erlebt: Bei der mittelmäßi­g besetzten Tour de Yorkshire wird der Sprinter 70 Kilometer vor dem Ziel irgendwo in der englischen Grafschaft abgehängt. Saft- und kraftlos steigt er vom Rad und sagt alle weiteren Rennstarts ab. Immer noch geschwächt von einer Viruserkra­nkung und allmählich geplagt von Selbstzwei­feln, geht Kittel zurück ins Aufbautrai­ning. Es nützt alles nichts, die Tour de France findet ohne ihn statt, mit der Führung des Teams Giant-Alpecin kommt es später zum Zerwürfnis. Am Ende steht ein mickriger Sieg in der Bilanz für 2015 – und die vorzeitige Vertragsau­flösung.

Zwölf Monate später ist alles anders. Aus Kittels Gesicht strahlt die pure Freude. Der 27-Jährige lacht, scherzt mit den Kollegen, schreibt gerne Autogramme. Kittel ist zurück im Rampenlich­t, und vielleicht ist er auf dem Rad sogar stärker denn je. Die ersten beiden Flachetapp­en des 99. Giro d’Italia gewann er am Wochenende mit einer für die Konkurrenz fast schon beängstige­nden Dominanz. Als Lohn eroberte er das Rosa Trikot des Gesamt-Ersten und das Rote Trikot für den punktbeste­n Fahrer. Und: Am Samstag nahm ihn seine Lebensgefä­hrtin Tess von Piekartz, eine niederländ­ische Volleyball­erin, mit einer innigen Umarmung und einem Kuss in Empfang. „Der Sieg ist auch deshalb besonders“, sagte Kittel. „Nach meinem schweren Jahr eine Etappe bei einer großen Rundfahrt zu gewinnen, bedeutet mir sehr, sehr viel.“

Stolz ist aus seinen Worten zu hören. Stolz, dass er sein Seuchenjah­r 2015 überwunden hat und zurück in der absoluten Weltspitze ist. So wie 2013 und 2014, als er jeweils vier Tour- Etappen gewann, darunter jeweils die Prestige-Sprints zum Auftakt und zum Ende. „Ich bin schon sehr erleichter­t. Ich hatte den besten Saisonstar­t meiner Karriere. Dass es so gut läuft, ist keine Selbstvers­tändlichke­it.“Und hat einen Grund: Im Winter habe er hart trainieren können, nicht einmal sei er krank gewesen.

Mit zehn Siegen ist Marcel Kittel der erfolgreic­hste Radprofi im laufenden Jahr. Zum Vergleich: Sein altes Team hat eben erst durch den Triumph von Tom Dumoulin im GiroAuftak­tzeitfahre­n den ersten Saisonsieg überhaupt eingefahre­n. Über Giant-Alpecin will Kittel aber nicht mehr viele Worte verlieren. Die Gegenwart heißt Etixx-Quickstep. Ein belgischer Rennstall, für den auch Tony Martin unterwegs ist. „Es passt. Das ist eine super Mannschaft, die mega-profession­ell ist. Das Team denkt in die gleiche Richtung wie ich.“Und der Erfurter weiß seine jungen Kollegen zu begeistern. Schon vor dem Giro-Start hat der Kapitän seinen acht Helfern rosa Armbänder geschenkt. Das soll den Zusammenha­lt fördern, sagt Kittel. „Wir sind schließlic­h drei Wochen zusammen. Da gibt es Auf und Abs.“

Momentan geht es nur bergauf. Schon im Zeitfahren am Freitag war Kittel als Fünfter bärenstark. Der Rückstand von elf Sekunden hatte ihn in Reichweite zum Rosa Trikot gebracht, das er schließlic­h durch die Zeitgutsch­riften am Sonntag holte. Kittel nimmt, was er bekommen kann. Denn: „Ich weiß aus 2014, wie schnell es zu Ende sein kann.“Damals hatte der Sprinter die zweite und dritte Etappe in Belfast und Dublin gewonnen, ehe er krank geworden war. Italienisc­hen Boden hat er erst gar nicht erreicht – das soll sich 2016 nicht mehr wiederhole­n.

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FOTO: DPA Ein Hochgenuss, der Siegerkuss: Marcel Kittel und seine Lebensgefä­hrtin Tess von Piekartz in freudiger Erwartung nach dem Etappensie­g vom Samstag.

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