Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Bis zum letzten Tropfen
Der VfB Stuttgart stößt gegen Mainz an seine Grenzen und muss für die 2. Bundesliga planen
STUTTGART - Falls Tränen tatsächlich nicht lügen, wie der Schlagersänger Michael Holm behauptet, dann ist der VfB Stuttgart am Samstag nach dem 1:3 gegen Mainz bereits definitiv aus der Fußball-Bundesliga abgestiegen. Gewinnen die Stuttgarter am 34. Spieltag in Wolfsburg und verlieren die Bremer zu Hause gegen Frankfurt, dann hätte der fünffache deutsche Meister tatsächlich noch die Chance, über die Relegation die Klasse zu halten. Der Glaube an diese Wahrscheinlichkeit, die im Promillebereich liegt, scheint allen Beteiligten aber zu fehlen, sonst wären da um 17.20 Uhr nicht sämtliche Emotionen wie ein Vulkanausbruch über den Klub, seine Spieler und seine Fans hereingebrochen. Als Deniz Aytekin die Partie abpfiff, war keiner mehr zu halten – weder die teils vermummten Ultras in der Cannstatter Kurve, die die Absperrungen durchbrachen, auf die Spieler lossprinteten, sie beschimpften, trösteten, dann wieder drohend die Fäuste ballten. Und auch nicht die Mannschaft selbst, die in Pulks verteilt so viel Wasser vergoss, dass man mit ihren Zähren den Neckar füllen hätte können. Es waren chaotische Szenen, die sich da vor den 60 000 in der Mercedes-Benz-Arena abspielte, und sie dürften das Ende einer Ära bedeuten: Das Ende von 39 Jahren Erstligazugehörigkeit in Folge.
Brillanter Langerak „Ich kann die Fans verstehen, wir sind verantwortlich dafür. Es liegt an jedem Einzelnen in der Mannschaft und an keinem anderen. Ich bin sprachlos, es tut mir leid, auch ich habe heute Fehler gemacht“, stammelte Kevin Großkreutz schluchzend ins Sky-Mikrofon, aber der Weltmeister war nicht der einzige Trauernde. Irgendwo in der Ecke saß Timo Werner, das größte Talent des Klubs, und musste von Security-Leuten getröstet werden, und auch Jürgen Kramny schien in der Pressekonferenz nahe am Wasser gebaut zu sein. „Für uns ist das natürlich eine brutale Geschichte, sehr, sehr bitter. Aber es ist noch nicht vorbei. Es fühlt sich schwer an. Wir brauchen das Wunder, wir müssen bis zum letzten Tropfen kämpfen“, sprach der 44-Jährige, und man fragt sich, wie um Himmels Willen ein Trainer seinem Team den Glauben an die Wiederauferstehung einimpfen will, der selbst schon auf dem Sterbebett liegt.
Angst sei ein echter Killer und kein guter Motivator, wer Angst habe, habe schon verloren, hatte Stuttgarts Präsident Bernd Wahler vor dem Schicksalsspiel gewarnt, und eines muss man Kramny lassen: Angst hatte er nicht, zumindest nicht bei der Aufstellung. In Martin Harnik und Florian Klein strich er gleich zwei Spieler „aus Leistungsgründen“aus dem Kader (die er in der zweiten Halbzeit noch gut brauchen hätte können) und brachte dafür fünf Neue in der Startelf, darunter in Toni Sunjic und Timo Baumgartl eine komplett neue Innenverteidigung und in Mitch Langerak einen neuen Torhüter. Die 2:6-Blamage in Bremen hatte Kramny das Defensivmanöver leicht gemacht. Leider half selbst die brillante Leistung Langeraks nicht, einen 1:0Vorsprung in einen Sieg zu wandeln, der Australier verhinderte lediglich, dass aus einer 1:3-Niederlage keine 1:8Schlappe wurde.
Während Frankfurt im Duell gegen Dortmund seine Führung verteidigte und den BVB immer wieder an seinem Abwehrriff abprallen ließ, war der VfB schnell überfordert mit dem Thema, das 1:0 durch Christian Gentner (6.) über die Zeit zu bringen. Im Endeffekt war es eine Minute, die über Wohl und Wehe entschied, die 37. nämlich: Ein Volleyschuss von Lukas Rupp wurde von FSV-Verteidiger Niko Bungert von der Linie geschlagen, im Gegenzug traf Yunus Malli nach Pass von Karim Onisiwo, der Großkreutz aussteigen lassen hatte, zum 1:1. Danach brachen sämtliche Dämme, die Stuttgarter lös- ten sich in ihre Einzelteile auf. Jhon Cordoba (54.) und Onisiwo (77.) trafen zum hochverdienten Sieg für die Mainzer, die sich damit für den Europacup qualifiziert haben. „84 Minuten lang eine Führung verteidigen zu müssen, ist nicht einfach, das löst im Kopf etwas aus“, meinte Gäste-Trainer Martin Schmidt danach. Nämlich die Angst, sie doch noch zu verlieren.
Die Stuttgarter haben inzwischen fast alles verloren, was es zu verlieren gibt. Nach dem 26. Spieltag hatten sie noch acht Punkte vor Rang 16 gelegen und sich von der scheinbar komfortablen Situation einlullen lassen, nun ereilte sie eine Art Sekundentod, der Schock und Entsetzen auslöste. „Es geht jetzt nicht nur um die theoretische Chance, es geht auch um Anstand und Ehre“, sagte Sportdirektor Robin Dutt, dem, sofern er nicht entlassen wird, bald die zweifelhafte Ehre zuteil werden wird, eine völlig neue Mannschaft in der 2. Bundesliga aufzubauen. Alle Stammkräfte dürften wohl gehen, der VfB kann schon froh sein, wenn er Jungspunde wie Baumgartl oder Langerak halten kann. Dutt versicherte, der Klub sei „auf den möglichen worst case sehr gut vorbereitet“. Ob er auch auf den best case vorbereitet ist? Dazu müsste er erst einmal die Grundtugenden des Fußballs wieder lernen – zu kämpfen. „Keine Leidenschaft, keine Gegenwehr, eine Katastrophe“, fasste Jürgen Sundermann zusammen, übrigens der Trainer, der Stuttgart 1977 nach zwei Jahren im Unterhaus wieder in die Bundesliga führte. Wundermann nannte man ihn damals. Vielleicht sollten sie den 76-Jährigen am Samstag in Wolfsburg neben Kramny auf die Bank setzen. SEITE 3