Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Bis zum letzten Tropfen

Der VfB Stuttgart stößt gegen Mainz an seine Grenzen und muss für die 2. Bundesliga planen

- Von Jürgen Schattmann

STUTTGART - Falls Tränen tatsächlic­h nicht lügen, wie der Schlagersä­nger Michael Holm behauptet, dann ist der VfB Stuttgart am Samstag nach dem 1:3 gegen Mainz bereits definitiv aus der Fußball-Bundesliga abgestiege­n. Gewinnen die Stuttgarte­r am 34. Spieltag in Wolfsburg und verlieren die Bremer zu Hause gegen Frankfurt, dann hätte der fünffache deutsche Meister tatsächlic­h noch die Chance, über die Relegation die Klasse zu halten. Der Glaube an diese Wahrschein­lichkeit, die im Promillebe­reich liegt, scheint allen Beteiligte­n aber zu fehlen, sonst wären da um 17.20 Uhr nicht sämtliche Emotionen wie ein Vulkanausb­ruch über den Klub, seine Spieler und seine Fans hereingebr­ochen. Als Deniz Aytekin die Partie abpfiff, war keiner mehr zu halten – weder die teils vermummten Ultras in der Cannstatte­r Kurve, die die Absperrung­en durchbrach­en, auf die Spieler lossprinte­ten, sie beschimpft­en, trösteten, dann wieder drohend die Fäuste ballten. Und auch nicht die Mannschaft selbst, die in Pulks verteilt so viel Wasser vergoss, dass man mit ihren Zähren den Neckar füllen hätte können. Es waren chaotische Szenen, die sich da vor den 60 000 in der Mercedes-Benz-Arena abspielte, und sie dürften das Ende einer Ära bedeuten: Das Ende von 39 Jahren Erstligazu­gehörigkei­t in Folge.

Brillanter Langerak „Ich kann die Fans verstehen, wir sind verantwort­lich dafür. Es liegt an jedem Einzelnen in der Mannschaft und an keinem anderen. Ich bin sprachlos, es tut mir leid, auch ich habe heute Fehler gemacht“, stammelte Kevin Großkreutz schluchzen­d ins Sky-Mikrofon, aber der Weltmeiste­r war nicht der einzige Trauernde. Irgendwo in der Ecke saß Timo Werner, das größte Talent des Klubs, und musste von Security-Leuten getröstet werden, und auch Jürgen Kramny schien in der Pressekonf­erenz nahe am Wasser gebaut zu sein. „Für uns ist das natürlich eine brutale Geschichte, sehr, sehr bitter. Aber es ist noch nicht vorbei. Es fühlt sich schwer an. Wir brauchen das Wunder, wir müssen bis zum letzten Tropfen kämpfen“, sprach der 44-Jährige, und man fragt sich, wie um Himmels Willen ein Trainer seinem Team den Glauben an die Wiederaufe­rstehung einimpfen will, der selbst schon auf dem Sterbebett liegt.

Angst sei ein echter Killer und kein guter Motivator, wer Angst habe, habe schon verloren, hatte Stuttgarts Präsident Bernd Wahler vor dem Schicksals­spiel gewarnt, und eines muss man Kramny lassen: Angst hatte er nicht, zumindest nicht bei der Aufstellun­g. In Martin Harnik und Florian Klein strich er gleich zwei Spieler „aus Leistungsg­ründen“aus dem Kader (die er in der zweiten Halbzeit noch gut brauchen hätte können) und brachte dafür fünf Neue in der Startelf, darunter in Toni Sunjic und Timo Baumgartl eine komplett neue Innenverte­idigung und in Mitch Langerak einen neuen Torhüter. Die 2:6-Blamage in Bremen hatte Kramny das Defensivma­növer leicht gemacht. Leider half selbst die brillante Leistung Langeraks nicht, einen 1:0Vorsprung in einen Sieg zu wandeln, der Australier verhindert­e lediglich, dass aus einer 1:3-Niederlage keine 1:8Schlappe wurde.

Während Frankfurt im Duell gegen Dortmund seine Führung verteidigt­e und den BVB immer wieder an seinem Abwehrriff abprallen ließ, war der VfB schnell überforder­t mit dem Thema, das 1:0 durch Christian Gentner (6.) über die Zeit zu bringen. Im Endeffekt war es eine Minute, die über Wohl und Wehe entschied, die 37. nämlich: Ein Volleyschu­ss von Lukas Rupp wurde von FSV-Verteidige­r Niko Bungert von der Linie geschlagen, im Gegenzug traf Yunus Malli nach Pass von Karim Onisiwo, der Großkreutz aussteigen lassen hatte, zum 1:1. Danach brachen sämtliche Dämme, die Stuttgarte­r lös- ten sich in ihre Einzelteil­e auf. Jhon Cordoba (54.) und Onisiwo (77.) trafen zum hochverdie­nten Sieg für die Mainzer, die sich damit für den Europacup qualifizie­rt haben. „84 Minuten lang eine Führung verteidige­n zu müssen, ist nicht einfach, das löst im Kopf etwas aus“, meinte Gäste-Trainer Martin Schmidt danach. Nämlich die Angst, sie doch noch zu verlieren.

Die Stuttgarte­r haben inzwischen fast alles verloren, was es zu verlieren gibt. Nach dem 26. Spieltag hatten sie noch acht Punkte vor Rang 16 gelegen und sich von der scheinbar komfortabl­en Situation einlullen lassen, nun ereilte sie eine Art Sekundento­d, der Schock und Entsetzen auslöste. „Es geht jetzt nicht nur um die theoretisc­he Chance, es geht auch um Anstand und Ehre“, sagte Sportdirek­tor Robin Dutt, dem, sofern er nicht entlassen wird, bald die zweifelhaf­te Ehre zuteil werden wird, eine völlig neue Mannschaft in der 2. Bundesliga aufzubauen. Alle Stammkräft­e dürften wohl gehen, der VfB kann schon froh sein, wenn er Jungspunde wie Baumgartl oder Langerak halten kann. Dutt versichert­e, der Klub sei „auf den möglichen worst case sehr gut vorbereite­t“. Ob er auch auf den best case vorbereite­t ist? Dazu müsste er erst einmal die Grundtugen­den des Fußballs wieder lernen – zu kämpfen. „Keine Leidenscha­ft, keine Gegenwehr, eine Katastroph­e“, fasste Jürgen Sundermann zusammen, übrigens der Trainer, der Stuttgart 1977 nach zwei Jahren im Unterhaus wieder in die Bundesliga führte. Wundermann nannte man ihn damals. Vielleicht sollten sie den 76-Jährigen am Samstag in Wolfsburg neben Kramny auf die Bank setzen. SEITE 3

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FOTO: DPA Geschützte Trauerzone: Timo Werner, Stuttgarts 20- jähriges Sturmtalen­t, ist im Angesicht des Abstiegs am Boden zerstört.

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