Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
„Es wird langsam zur Normalität“
Die Politikerin Ekin Deligöz über Migranten, die Karriere in der Politik machen
RAVENSBURG - Erstmals steht mit Londons Bürgermeister Sadiq Khan ein Muslim an der Spitze einer europäischen Metropole – während in Deutschland darüber diskutiert wird, ob der Islam zur Bundesrepublik gehört oder nicht. Die Neu-Ulmer Grünen-Politikerin Ekin Deligöz, Mitglied im Bundestag, erklärt im Gespräch mit Anja Reichert, welche positiven Signale diese Wahl hat.
Ein Muslim steht an der Spitze der Weltstadt London. Was sagt das über die britische Metropole aus? Man könnte vermuten, dass die Stadt moderner ist, als man im Zeitalter von Brexit-Debatten glauben möchte. Die Stadt hebt sich ab von dem, was eine konservative Regierung darstellt. Sie geht in eine andere Richtung, tickt politisch anders. Die Londoner hatten die Wahl zwischen zwei interessanten Menschen und haben sich für den Labour-Kandidaten entschieden, für den Sohn eines pakistanischen Arbeiters. In seinem politischen Programm hatte er weder den Islam noch seine Einwanderungsgeschichte in den Vordergrund gestellt, sondern sozialpolitische Themen, wie Wohnungsbau oder soziale Gerechtigkeit. Dafür ist er eingestanden und dafür wurde er gewählt.
Sind Spitzenkandidaten mit Migrationshintergrund eine Ausnahme in der deutschen Politik? Die Einwanderungsgeschichte Großbritanniens ist natürlich ein wenig älter als unsere. Aber es gibt auch in Deutschland schon Spitzenpersonal mit Migrationshintergrund. Etwa unseren Parteivorsitzenden Cem Özdemir. Und, wir haben zunehmend Migranten in Regierungsämtern, seien es Staatssekretäre oder Minister. Es wird langsam zur Normalität. Hat diese Wahl Vorbildcharakter? Die Wahl sendet mehrere Signale. Die Stadt ist liberaler, als das Land erscheint. Es ist ein gutes Signal in der Debatte um Europa, weil mit Bürgermeister Khan ein überzeugter Europäer gewählt worden ist. Es ist ein Zeichen dafür, dass es einen liberalen Islam geben kann, jemand der dafür einsteht und der die Angst nimmt, dass der Islam in Europa immer alten oder orthodoxen oder islamistischen Tendenzen anhängt. Und es zeigt, dass Migration zur Geschichte Europas gehört und dass sich Menschen mit Migrationshintergrund mit Land und Politik identifizieren und Verantwortung übernehmen wollen.
Ein muslimischer Bürgermeister – ist es auch hierzulande möglich? In dem Moment, wenn wir über Personenwahlen reden und Menschen jene Personen wählen, die sie überzeugen, kann ich mir das gut vorstellen. Auch Khan ist in erster Stelle nicht als Muslim, sondern als Sozialreformer aufgetreten. Auch in einer deutschen Stadt würde ein Migrant mit Inhalten auftreten und hoffentlich auch dafür gewählt. Politik lebt von Persönlichkeiten, die Ideen ha- ben, und das sollte im Vordergrund stehen.
Wenn Sie auf Ihre Karriere blicken, war Religion jemals ein Problem? Ich denke, dass ich mich öfter rechtfertigen und gegen Vorurteile kämpfen musste. Gegenüber der Türkei musste ich immer wieder signalisieren, dass ich eine deutsche Abgeordnete bin und nicht der verlängerte Arm der Türkei. Den Deutschen gegenüber musste ich signalisieren, dass ich eine Deutsche bin und meine Heimat hier ist – deshalb mache ich hier Politik und bin nicht verantwortlich für alles Gute und Schlechte woanders.
Inwiefern darf die Religionszugehörigkeit ein Politikthema sein? Religion darf maximal eine persönliche Entscheidungshilfe sein. Dabei sollte es auch belassen werden. Niemand macht Politik primär als Protestant, Katholik oder Muslim. Wir machen Politik als dem Grundgesetz verpflichtete Mitglieder des Deutschen Bundestages, als Vertreter unserer Fraktionen, die dafür einstehen, dass eine bestimmte parteipolitische Programmatik umgesetzt wird. Ekin Deligöz ( Bündnis 90/ Die Grünen) ist seit 1998 Mitglied des Deutschen Bundestages und Abgeordnete des Wahlkreises Neu- Ulm. 1979 kam sie mit ihrer Familie aus der Türkei nach Deutschland. 1988 wurde sie Grünen- Mitglied und beteiligte sich unter anderem am Aufbau der Grünen Hochschulgruppe an der Universität Konstanz. Deligöz ist verheiratet und hat zwei Kinder. ( Foto: dpa)