Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Die Grande Dame sorgt sich um die Demokratie
Liberales Urgestein ohne FDP-Mitgliedschaft: Hildegard Hamm-Brücher wird 95
MÜNCHEN - Hätte es die Grünen schon mit der Gründung der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg gegeben, vielleicht hätte Hildegard Hamm-Brücher nicht als Grande Dame der Liberalen Geschichte gemacht, sondern als grünes Urgestein. Aber jetzt, zu ihrem 95. Geburtstag an diesem Mittwoch, nähert sie sich der FDP wieder an, die sie 2002 verlassen hatte – auch wegen des von Jürgen Möllemann beförderten latenten Rechtsrucks.
Ja, die FDP sei wieder im Kommen, sagt Hildegard Hamm-Brücher. Sie habe inzwischen „gute Ansätze“. Den neuen Parteichef Christian Lindner schätzt sie durchaus. Aber wieder ein gelbes Parteibuch zu beantragen, das kommt ihr nicht in den Sinn. Es sei für eine Umarmung noch zu früh. Da müsse die FDP noch ein bisschen zulegen, sagt Hildegard Hamm-Brücher. Ihr Hauptbestreben mit knapp 95 ist ohnehin ein anderes: „Dass es mir bis zum Ende einigermaßen gut geht.“
Sehr gut geht es ihr nicht mehr. Zwei Oberschenkelhalsbrüche und Gleichgewichtsstörungen haben sie gebrechlich gemacht. Nach einem großen öffentlichen Appell zum 95. Geburtstag ist ihr ebenso wenig wie nach ausladenden Feiern und vielen Reden. Sie flüchtet vor dem großen Tag aus ihrer Wohnung in München-Harlaching.
„Halbjüdin“Hildegard Hamm-Brücher war nie der wirtschaftsliberale Ansatz der FDP wichtig, sondern Gesinnungsliberalität und vor allem das Einstehen gegen Neonazismus und allem, was damit zusammenhängt. Weil ihre Großeltern Juden waren, wurde die 1921 in Essen geborene und in Berlin aufgewachsene Tochter des damals bekannten Juristen Paul Brücher nach den Rassegesetzen der Nazis als „Halbjüdin“eingestuft. Nach dem frühen Tod ihrer Eltern kümmerte sich ihre Großmutter in Dresden um das Mädchen. Hildegard Brücher musste erleben, wie die geliebte Großmutter von den Nazis schikaniert wurde bis sie 1942 Selbstmord beging. Der Nobelpreisträger Heinrich Wieland sorgte dafür, dass die junge Frau Chemie studieren und 1945 promovieren konnte. Die NaziGewaltherrschaft prägte das politische Wirken von Hildegard HammBrücher, die 1948 auf der Liste der FDP als jüngste Frau in den Münchener Stadtrat gewählt wurde. Es folgen mehrfache Mandate als bayerische Landtagsabgeordnete, dann als Bundestagsabgeordnete. Sie war Staatssekretärin in Hessen, Staatssekretärin im Bundesbildungsministerium und im Auswärtigen Amt. Bei der Bundespräsidentenwahl 1994 trat sie nach dem zweiten Wahlgang nicht mehr an.
Die Anfälligkeit junger Menschen für nationalsozialistisches Gedankengut, die Geschichtsvergessenheit vieler junger Menschen und nicht zuletzt der durch FDP-Vize-Chef Möllemann ausgelöste Rechtsdrall ihrer ehemaligen Partei FDP machen der alten Dame bis heute zu schaffen. Man müsse fürchten, „dass da eine ganze Menge nachgewachsen ist“, sagte sie der Nachrichtenagentur dpa. Auch die aus ihrer Sicht von der Parteienherrschaft, Funktionärstum und Fraktionsdisziplin beförderte Politikverdrossenheit der Menschen in Deutschland beunruhigt die Altliberale.
Anerkennung für Kretschmann Wäre Hildegard Hamm-Brücher politisch noch aktiv, wäre vielleicht eine Annäherung zwischen FDP und Grünen in Gang gekommen. Von den hessischen Grünen wurde sie 2010 – acht Jahre nach dem Austritt aus der FDP – als Wahlfrau für die 14. Bundesversammlung nominiert.
Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann ist eine Figur aus der aktuellen deutschen Politikszene, die ihr imponiert: Seine Grundideen, sagte sie einmal, seien „absolut richtig“. Und wie Kretschmann jetzt „die Streithammel“zu einer Koalition zusammenbekommen habe, verdiene Anerkennung.