Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Ganz normal
ein Freund war damals ein bisschen verrückt. Deshalb war er und blieb er bis heute mein Freund.
Er war Liebhaber giftiger Schlangen und Vogelspinnen, die er beim Obstimporteur Harder & Meiser, damals am Güterbahnhof, bekam und ins Terrarium in seinem Zimmer setzte. Die Frösche für die Schlangen fingen wir am Fläppe und am Bibersee. Dort zelteten wir auch, und weil mein Freund neugierig und nicht normal war, wollte er in den Ferien abends mit mir vor dem Zelt Goethes „Faust“mit verteilten Rollen lesen, dessen Lektüre mir meine Deutsch-Lehrerin im Gymmi aufgegeben hatte.
Mein Freund trampte auch ohne Weiteres mit mir nach London und ohne einen Pfennig wieder zurück nach Ravensburg. Jemand hatte uns das Geld in einer Spielhalle in Eastbourne geklaut. Mein Freund war später gegen Ehe, Krieg und Karriere, weshalb er den Dienst an der Waffe verweigerte, Jahrelang in einer Kommune lebte und alte Uhren und Möbel restaurierte.
Als mich später Zweifel an meiner bürgerlichen Karriere plagten, stellte mein Freund sein Leben um. Er heiratete und wurde Beamter im Wasserwirtschaftsamt einer oberschwäbischen Kreisstadt. Jetzt, da wir beide pensioniert sind, will mein Freund mit mir wieder an den Bibersee und noch einmal „ Faust“lesen. „Jetzt verstehen wir Goethe besser als damals“, sagt mein Freund, „das ist ganz normal.“So ein Freund ist einfach unglaublich.