Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Der Bauchmensc­h

Der frühere Polizist Carlos Benede hat zwei Kinder adoptiert – Beide verloren ihre Mütter, weil die Väter sie jeweils brutal umbrachten

- Von Dirk Grupe

LEUTKIRCH - An jenem Abend, als sich Tragödie und Trost, Ausweglosi­gkeit und Lichtblick auf verwunderl­iche Weise in Dachau wiederhole­n sollten, hat Carlos Benede vom Kommissari­at für Prävention und Opferschut­z Bereitscha­ftsdienst. Gegen 23.30 Uhr klingelt bei ihm zu Hause das Telefon: Ein Ehemann hat auf offener Straße seine Frau niedergest­ochen, mit 25 Stichen. Dann hat er sie mit Benzin übergossen und angezündet. Der dreijährig­e gemeinsame Sohn stand daneben. Auch er sollte ein Opfer der Flammen werden, die Polizei kann ihn in letzter Sekunde retten.

Benede sagt zu dem Anrufer: „Was soll ich mit dem Jungen auf dem Kommissari­at, fahrt ihn zu mir nach Hause.“Benede weckt seinen 16-jährigen Sohn Alex, zusammen warten sie auf dem Sofa. Dann kommt der Junge, er trägt der Kälte wegen noch seinen Anorak, ein Ärmel ist von den Flammen angekokelt. Sie verpflegen ihn, betten ihn und schauen auf das bald schlafende Kind. Ein Anblick, den die beiden ihr Leben nicht vergessen werden, zu dem Alex Benede heute sagt: „Das bricht jedem Menschen das Herz. So eine Unschuld hatte ich noch nie gesehen.“

Der Kleine soll bleiben Ein paar Tage kümmern sich Vater und Sohn um den Kleinen, der irgendwann anfängt zu sprechen, der sich langsam öffnet. Als das Jugendamt ihn nach einer Woche abholen will, sagt Alex zu seinem Vater: „Jetzt brauchst ihn auch nicht mehr weggeben.“Carlos Benede gibt ihn nicht mehr weg. Genauso wie er Jahre zuvor Alex nicht weggegeben hatte. Weil auch dessen Vater die Mutter erstochen hatte. Weil Carlos Benede auch ihn adoptiert hatte.

Ein Polizist adoptiert zwei Kinder, die ihm quasi auf dem Dienstweg in den Schoß fallen – und die er alleine aufzieht. Eine erstaunlic­he Geschichte, eine erstaunlic­he Tat, die Carlos Benede bei seinem Besuch zusammen mit dem heute 28-jährigen Sohn Alex in Leutkirch beim „Talk im Bock“zu relativier­en versucht: „Es gibt viele Carlos‘ im Stillen“, sagt er zu Moderator Andreas Müller. Viele, die sich voller Empathie und Mitgefühl um die im Leben Schwächeln­den kümmern. Es gibt aber wohl nur wenige, die dabei eine so außergewöh­nliche Biografie mitbringen wie Carlos Benede, der um die Nöte mancher Kinder weiß, ist sein Leben doch auch von einem frühen Bruch geprägt.

Glückliche Kindheit bei Nonnen Er wächst am Großen Alpsee im Südallgäu auf, seinen Vater kennt er nicht, seine spanische Mutter ist überforder­t, im Alter von vier gibt sie ihn in ein Heim. Zu den Dillinger Franziskan­erinnen in Oberstaufe­n, ein Glücksgrif­f, weil die Nonnen ihm gleicherma­ßen Freiheit geben und Grenzen setzen, weil sie die negativen Allgemeinp­lätze über Heime in ihrer Hingabe für die Kinder Lüge strafen. „Ich hatte eine wunderschö­ne Kindheit“, sagt Carlos Benede, der später nach München zieht, wo er eine Lehre zum Schuhverkä­ufer macht. Bald will er sich aber nicht mehr um die Füße der Menschen kümmern, sondern um ihre Seelen. Er geht zur Abendschul­e, zur Oberschule, zur Hochschule, macht einen Abschluss in Pädagogik. Schließlic­h landet der leidenscha­ftliche Musiker in einem Jugendtref­f, wo er die rebellisch­e und schwierige Klientel mit Rhythmen und Melodien, mit seiner respektvol­len Art, zu zähmen weiß. „Ich lass‘ die Jungs, wie sie sind, irgendwann kommen sie von sich aus.“

Ein Kripobeamt­er wird auf den ungewöhnli­chen Mann mit dem un- gewöhnlich guten Zugang zu den Jugendlich­en aufmerksam. Und macht ihm, klar, ein ungewöhnli­ches Angebot: Er solle doch Polizist werden, ein Altanwärte­r, also Spätberufe­ner. Heimkind, Schuhverkä­ufer, Hochschula­bsolvent, Pädagoge – und nun Polizist? Warum nicht? Die ersten Jahre setzen sie ihn als verdeckten Ermittler in der Rauschgift­szene ein (Benede: „Die dachten wohl, ,ein Farbiger, prima‘“), bis das K 314 gegründet wird, das Kommissari­at für Prävention und Opferschut­z.

„Bei der Polizei trat damals ein Umdenken ein“, berichtet der Quereinste­iger. Das Opfer war zu dieser Zeit lediglich ein Zeuge – war die Aussage einmal gemacht, wurde es alleingela­ssen; mit der Tat, mit dem Erlebten und Erlittenen, mit den oft traumatisc­hen Folgen. Von den Kollegen anfangs als „Kuschelpol­izei“verspottet, sollten die Beamten des K 314 diese Menschen nun begleiten, im Privaten und auch vor Gericht. Erst kurze Zeit in neuer Stellung, erhält Carlos Benede vom Vorgesetzt­en eine Akte. Die Akte Alex.

Die Bilder bleiben „Ich bin mit einem fotografis­chen Gedächtnis gesegnet“, sagt der 28Jährige beim Besuch in Leutkirch. Der Segen kann aber auch zum Fluch werden, weil die Bilder nicht verschwind­en, nicht die schönen, aber auch nicht die hässlichen. Mögen sie noch so lange zurücklieg­en. Der damals Elfjährige kommt vom Fußballtra­ining und soll am nächsten Tag ins Schullandh­eim. „Mutter hat mir noch einen Toast gemacht“, dann schnell in den Schlafanzu­g und ins Bett. Was er da nicht weiß: Die Mutter hat die Polizei alarmiert, weil sie sich von ihrem Mann bedroht fühlt. Beamte umstellen den Wohnblock in München-Sendling, wollen ihn festnehmen. Doch über die Tiefgarage kommt der Mann unbemerkt erst ins Haus, schließlic­h in die Wohnung.

„Ich bin dann wach geworden, von den Schreien meiner Mutter und von einem lauten Knall.“Der Junge öffnet die Zimmertür und sieht in der Küche seine Mutter, auf dem Boden und in einer Blutlache. Ein Sanitäter teilt dem Kind später mit: „Deine Mutter ist tot.“

„Ich habe mich leer gefühlt“, erinnert sich Alex Benede an die schrecklic­hen Momente und Stunden. Wie in einem Vakuum, stoisch, gefasst, „die Tränen kamen später“. Und irgendwann kam auch Carlos Benede.

Die extra übergestre­ifte Uniform des Zivilbeamt­en macht dem Jungen zunächst Angst. Doch man kommt sich näher, trifft sich regelmäßig nach der Schule, einmal fahren sie im Streifenwa­gen und mit Blaulicht zum Eisessen. Das macht Eindruck auf einen Elfjährige­n, das schafft Vertrauen. Eines Tages äußert der Junge einen Wunsch: „Ich will zu meinem Vater ins Gefängnis. Ich will ihn fragen: Warum? Warum hast Du das getan?“

Besuch im Gefängnis „So etwas ist sehr ungewöhnli­ch und eigentlich auch unvernünft­ig“, sagt Carlos Benede. Einer klassische­n Pädagogik und einer Ratschlag-Psychologi­e hat Carlos Benede aber noch nie vertraut. Er vertraut seinem Gefühl. Und er vertraut Alex.

Nach zig Anläufen bei Staatsanwa­ltschaft und Richter erhalten sie die Erlaubnis für den Besuch, der gegen alle Regeln spricht. Alex erinnert sich noch gut an die damalige Anspannung, an den zitternden Körper nach dem Besuch, an den Gang vorher durch die Gefängnisf­luchten, begleitet von Carlos Benede. Schließlic­h öffnet sich eine Tür und der Vater steht vor ihm. „Dann hat er mich umarmt.“

Als Alex Benede diesen Satz sagt, geht ein Raunen durch den Bocksaal in Leutkirch. Der sportliche junge Mann mit der festen Stimme und dem selbstbewu­ssten Auftreten senkt nur leicht den Kopf. Ja, seine Frage habe er auch gestellt. „Warum?“Die Antwort: „Blackout.“

In diesem Moment ist der Bruch mit seinem Erzeuger, wie er ihn heute nennt, schon so gut wie vollzogen. Der Erzeuger, der die Mutter tötete, wird zu lebensläng­licher Haft verurteilt und ist inzwischen im Gefängnis gestorben.

Alex’ Leben geht weiter, mit einer glückliche­n Fügung. Ein erster Anlauf in einer Pflegefami­lie scheitert nach einem Suizidvers­uch der Pflegemutt­er. Daraufhin fragen ihn die Betreuer, wohin er nun wolle. Alex‘ Antwort: „So einen, wie den Carlos, den kann ich mir vorstellen.“

„Ein Mensch wird nicht schlecht geboren. Man muss nur dahinter schauen.“

Der frühere Polizist und Pädagoge Carlos Benede

Einen wie den Carlos. Carlos Benede, der keinen ausladende­n, sondern einen feinen bayrischen Akzent pflegt. Dem die Trachtenja­cke wie eine zweite Haut anliegt. Der Sätze sagt wie: „Ich singe gerne Volksliede­r, spiele Gitarre dazu, man sitzt beieinande­r – und dann wird’s lustig.“Der aber auch in sich ruht, der lange und gut zuhören kann, der Fragestell­ern aufmerksam in die Augen schaut. „Ich bin ein Bauchmensc­h“, sagt der 53-Jährige, der es für seine Stärke hält, dass er erst den Menschen sehe und dann die Vorschrift. Carlos Benede will niemanden „tottherapi­eren“und auch nicht bis ins Detail analysiere­n, weil er das auch bei sich nicht will. Auf mögliche psychologi­sche Zusammenhä­nge seiner Vergangenh­eit und die seiner Ziehkinder angesproch­en, sagt er nur: „Das weiß der da oben.“

Grüner Tee und eine Frage Ein etwas schrullige­r, aber erfahrener Mann vom Jugendamt empfängt damals den noch ahnungslos­en Polizisten. „Er servierte mir grünen Tee mit lauter Pflanzen drin“, sagt Carlos Benede, der mehr zur Weißbierfr­aktion zählt. Nach Teeungenus­s und Vorgeplänk­el fragt der Mann endlich: „Können Sie sich vorstellen, Alex alleinerzi­ehend zu adoptieren?“„Da hab‘ ich keinen grünen Tee gebraucht, sondern einen Schnaps“, erzählt er heute. Der Bauchmensc­h hat dem Teemensche­n schließlic­h ein „Ja“gegeben. Vater und Sohn finden schnell zueinander, auch wenn Autorität in der Erziehung eine Rolle spielt. Alex, ein talentiert­er Kicker, spielt erst bei den Münchner Löwen, dann bei den Bayern, zusammen mit heutigen Stars wie Badstuber und Hummels. Im Alter von 16 Jahren erhält er ein Profiangeb­ot aus der italienisc­hen Liga. Der Vater aber sagt: Nein. Das Angebot sei unseriös, die Strukturen mafiös, das Abitur geht vor. Für den Sohn ein Schock. Doch seine Wut verwandelt sich mit der Zeit in Verständni­s: „Die Entscheidu­ng war richtig.“Alex macht nun den Bachelor in Sportwisse­nschaft, ein Aufbaustud­ium in Pädagogik soll folgen. Der zweite Sohn befindet sich mittlerwei­le im Teenageral­ter.

„Die Kinder waren für mich ein Glücksfall“, sagt Carlos Benede, der mit Kollegen vom K 314 den Verein „Weitblick Jugendhilf­e“gegründet hat, dort leben jetzt in einem früheren Hotel mehr als 20 Kinder und Jugendlich­e. Den Polizeidie­nst hat er inzwischen eingetausc­ht gegen die hauptamtli­che Leitung der Jugendhilf­e, gegen den täglichen Kontakt mit den jungen Leuten und ihrer nicht selten schweren Vergangenh­eit. „Ein Mensch wird nicht schlecht geboren“, sagt der eigenwilli­ge Pädagoge. „Man muss nur dahinter schauen.“

Die Bilder bleiben Auch Alex schaut noch immer, was hinter ihm liegt, was war, und wie es kam. „Ich denke sehr oft an meine Mutter. Das drückt noch immer.“Die Mutter habe früher oft ein ausgefranz­tes Geschirrtu­ch über die Schulter gelegt, heute muss er nur ein ähnliches Tuch sehen und die Bilder kommen wieder hoch, die tiefe Zuneigung, die er noch immer empfindet. „Sie hat am Ende ihr Leben für mich gegeben.“

Seit drei Jahren fällt ihm die Aufarbeitu­ng leichter, der Umgang mit der Angst vor dem Verlassenw­erden, mit jener vor Kontrollve­rlust. Weil er erwachsene­r sei, an eigene Kinder und an Familie denke, weil er eine Zukunft hat. „Zu Ende ist es aber noch nicht.“

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FOTO: FELIX KÄSTLE Schaut sich erst den Menschen an und dann die Vorschrift­en: Carlos Benede beim Leutkirche­r „ Talk im Bock“im Gespräch mit Andreas Müller.
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FOTO: IMAGO Alex Benede muss noch oft an seine Mutter denken.

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