Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Raus aus der Fürsorge – hin zur Teilhabe

Arbeitsmin­isterin Andrea Nahles (SPD) will behinderte Menschen stärken, erntet aber viel Kritik

- Von Sabine Lennartz

BERLIN - Das neue Teilhabege­setz soll laut Arbeitsmin­isterin Andrea Nahles Behinderte besserstel­len. Es soll ihnen vor allem ein selbstbest­immtes Leben ermögliche­n. Von einem „Meilenstei­n“spricht die Ministerin. Doch seit Wochen, seit der Referenten­entwurf bekannt ist, ketten sich in Berlin Rollstuhlf­ahrer an, um ihrem Protest und ihrer Enttäuschu­ng Ausdruck zu verleihen. Ihnen reicht das Gesetz nicht. Am nächsten Dienstag soll das Gesetz vom Kabinett verabschie­det werden.

Der wichtigste Punkt: Die Einglieder­ungshilfe soll künftig „personenze­ntriert“geleistet werden. Die Leistungen für Menschen, „die aufgrund einer wesentlich­en Behinderun­g“nur eingeschrä­nkte Möglichkei­ten der Teilhabe am Leben in der Gesellscha­ft haben, sollen aus dem bisherigen „Fürsorgesy­stem“herausgefü­hrt und die Einglieder­ungshilfe „zu einem modernen Teilhabere­cht weiterentw­ickelt werden“, heißt es im Referenten­entwurf. Das bedeutet, der Behinderte selbst steht mit seinen Wünschen im Mittelpunk­t. Was er braucht und was er möchte, soll entscheide­nd sein, und nicht länger der Ort seiner Unterbring­ung. Rund 700 000 Menschen in Deutschlan­d haben derzeit einen direkten Assistenzb­edarf.

Mehr vom Einkommen Weitere wichtige Änderung: Bisher durften Behinderte nur 2600 Euro ansparen, ohne dass die staatliche Hilfe gekürzt wird. Das heißt, sie haben Probleme, Geld für den Urlaub oder die Altersvors­orge zurückzule­gen. Künftig soll der Freibetrag auf 25 000, von 2020 an auf rund 50 000 Euro steigen.

Einkommen sowie Vermögen des Partners sollen künftig keine Rolle mehr spielen. Auch das ist für manche Behinderte wichtig, die die bisherigen Regeln als eine Art von „Heiratsver­bot“sehen.

Außerdem sollen Behinderte künftig nur noch eine Anlaufstel­le haben. Ein Reha-Antrag soll reichen, um alle Leistungen zu erhalten. Dazu wird die Beratung vor Ort ausgebaut, auf je 200 000 Einwohner sollen zwei Berater kommen, dafür sind 60 Millionen Euro eingeplant.

Der Behinderte­nbegriff soll auch moderner werden. Teilhabe soll heißen, dass jedem das Leben ermöglicht wird, dass er sich in der Arbeit, bei der Bildung oder im gesellscha­ftlichen Leben individuel­l vorstellt.

Behinderte­nverbänden reichen die Vorschläge jedoch noch nicht aus. Selbst die Behinderte­nbeauftrag­te der Bundesregi­erung, Verena Bentele, hält das Gesetz zwar für einen „großen Schritt“, aber für noch nicht ausreichen­d.

Andrea Nahles spricht immer wieder auch mit Arbeitgebe­rn über eine bessere Einglieder­ung von Behinderte­n. Über eine Million schwerbehi­nderte Menschen sind in Deutschlan­d in 113 000 Betrieben tätig. Immer noch stellen aber 39 101 Betriebe keine schwerbehi­nderten Menschen ein, sondern zahlen lieber eine Abgabe.

Die Betriebe kommen jedoch immer mehr in die Pflicht. Denn nur 13 Prozent der Schwerbehi­nderten sind mit ihrer Behinderun­g geboren, viele erwerben sie erst durch ihre Berufstäti­gkeit oder private Unfälle.

Angst vor Verschlech­terung Viele Behinderte, die jetzt in Berlin protestier­en, haben lange für ihr Geld gekämpft und jetzt Angst, es könnte schlechter werden. Andrea Nahles tritt allerdings dafür ein, dass es niemand schlechter haben soll. Für die Behinderte­n, deren Vermögen bislang sehr weitgehend freigestel­lt wurde, wie es in Ulm der Fall sein soll, sollen Vertrauens­schutzrege­lungen gelten.

Doch es sind nicht nur die Behinderte­n selbst, die schon Befürchtun­gen äußern, es sind auch die Landkreise mit Behinderte­neinrichtu­ngen. Bisher wurden die Leistungen von dem Herkunftso­rt gezahlt. Das soll sich ändern. Im Arbeitsmin­isterium sieht man die Länder in der Pflicht, das innerhalb der Länder auszugleic­hen. Schon bisher bestehe ein kompletter Flickentep­pich in den Regelungen, wer die Leistungen für Behinderte zahle, Kommunen oder Land.

Insgesamt kostet die Neuregelun­g des Teilhabege­setzes rund eine halbe Milliarde im Jahr. Es soll aber nicht der Schlusspun­kt sein. Schon kurz darauf soll ein nationaler Aktionspla­n Deutschlan­d folgen.

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FOTO: DPA Nicht zufrieden mit Nahles’ Plänen: In Berlin protestier­ten vor einigen Wochen Rollstuhlf­ahrer, weil sie Nachteile durch das neue Teilhabege­setz befürchten.

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