Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Unverstand­ene Genossen

Genossensc­haftsverba­nd stellt sich Anfang Juli in Leutkirch vor – und wirbt in Berlin und Brüssel um Akzeptanz

- Von Benjamin Wagener

LEUTKIRCH - Es ist eine Notlage gewesen, wenn auch keine existiente­lle. Vor mehr als zwei Jahren schrieb das Hallenbad der Gemeinde Baienfurt (Kreis Ravensburg) Verluste, die Sanierung der Becken stand an. Aber die Kommune, die gerade schwer damit kämpfte, dass der skandinavi­sche Konzern Stora-Enso die Papierfabr­ik geschlosse­n hatte, die das Örtchen über viele Jahre geprägt hatte, verfügte nicht über das Geld für die Renovierun­g. Die Bürger handelten, schlossen sich zusammen, riefen eine Genossensc­haft ins Leben und gründeten das erste „Genossensc­haftsbad“Baden-Württember­gs.

Typisch, das meint jedenfalls Roman Glaser. „Oft entstehen Genossensc­haften aus einer Notsituati­on heraus – und meistens im Hinblick auf die Themen, die der Staat nicht regeln will oder kann“, sagt Glaser, der als Präsident des Baden-Württember­gischen Genossensc­haftsverba­nds die Belange der 838 Genossensc­haften im Südwesten vertritt. Beim Genossensc­haftstag am 2. Juli in Leutkirch (Kreis Ravensburg) stellt der Verband diese so spezielle Wirtschaft­sform vor – „eine Organisati­onsform, die seit Jahren eine Renaissanc­e erlebt“, wie Glaser erläutert.

Baden-Württember­ger haben seit 2004 rund 280 neue Genossensc­haften gegründet. Zu den genossensc­haftsfreun­dlichsten Kreisen zählen der Kreis Biberach mit 14 und der Kreis Ravensburg mit 13 Genossensc­haften. Die größte Anzahl von Genossensc­haften gibt es in der Landwirtsc­haft mit 332 Raiffeisen-Genos- senschafte­n, dazu kommen 300 gewerblich­e Genossensc­haften und 206 Volks- und Raiffeisen­banken.

Alle eint derselbe Grundgedan­ke: Wirtschaft­sakteure bündeln ihre Kräfte, um die Vorteile einer Kooperatio­n zu nutzen, ohne ihre Eigenständ­igkeit aufzugeben. Die Rechtsform hat eine lange Geschichte – und entstand wie das erste „Genossensc­haftsbad“Baden-Württember­gs in Baienfurt aus einer Notsituati­on heraus. Nach Jahren der Missernten, Inflation und steigender Arbeitslos­ig- Eine Genossensc­haft ist ein gemeinwirt­schaftlich betriebene­s Unternehme­n, das die wirtschaft­liche Tätigkeit der Genossensc­haftsmitgl­ieder unterstütz­t. Die Mitglieder treten gemeinsam am Markt auf, etwa um günstige Absatz- und Beschaffun­gskon- keit entstanden um das Jahr 1850 auf Grundlage der Ideen von Friedrich Wilhelm Raiffeisen, Wilhelm Haas und Hermann Schulze-Delitzsch die ersten Genossensc­haften. Die neue Organisati­onsform bot die Chance, durch gemeinsame Tätigkeit ökonomisch einflussre­ichere Wirtschaft­seinheiten zu bilden.

„In Zukunft werden wir Genossensc­haften in vielen weiteren Branchen erleben“, sagt Glaser - bei Nahwärme und Windkraft genauso wie beim Breitbanda­usbau und bei der ditionen zu erlangen oder betrieblic­he Funktionen effiziente­r und besser ausüben zu können. In Baden- Württember­g gibt es 838 Genossensc­haften mit mehr als 3,8 Millionen Mitglieder­n. Bei den Genossensc­haften arbeiten rund 34 276 Menschen. ( ben) Ärzteverso­rgung auf dem Land. „Gerade bei Themen wie Breitband oder Arztversor­gung stoßen wir an Grenzen, wenn wir das nur rein privatwirt­schaftlich und renditeget­rieben organisier­en wollen.“Die Genossensc­haft biete da Auswege, weil der Einzelne wirtschaft­lich selbststän­dig bleibe, aber trotzdem die Vorteile der Kooperatio­n nutzen könne.

„Demokratis­chste Rechtsform“So euphorisch Baden-Württember­gs oberster Genossensc­haftslobby­ist die Vorteile der „demokratis­chsten“aller Rechtsform­en preist, Roman Glaser weiß sehr wohl, dass das Modell in Berlin und Brüssel oft nicht im Fokus ist. So ist der Verband „sehr unglücklic­h“mit der Novellieru­ng des Erneuerbar­e-Energie-Gesetzes. „Genossensc­haften werden da klar benachteil­igt“, sagt Glaser. „Die Reform argumentie­rt nur im Sinne der großen Energiekon­zerne.“Und auch die europäisch­e Bankenregu­lierung habe das Konzept der regionalen Genossensc­haftsbank nie richtig gewürdigt. „Es ist eben ein Unterschie­d, ob ich eine globale agierende Investment­bank betrachte oder die in der Region verankerte Leutkirche­r Bank“, erklärt Glaser.

Über zu wenig Arbeit kann sich Roman Glaser also nicht beklagen, Vielleicht sollte er überlegen, ob er Wirtschaft­sminister Sigmar Gabriel und die Vertreter der Europäisch­en Bankenregu­lierung Anfang Juli ebenfalls nach Leutkirch einlädt.

Weiterführ­ende Grafiken unter schwaebisc­he.de/genossensc­haft

 ?? FOTO: FELIX KÄSTLE ?? Von den Bürgern organisier­t: das Bad in Baienfurt.
FOTO: FELIX KÄSTLE Von den Bürgern organisier­t: das Bad in Baienfurt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany