Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Chaos im Katastrophenfall
Terror, Überflutung, Großbrand: Polizei und Kommunen sind uneins über Warnsysteme
STUTTGART/FRIEDRICHSHAFEN Nach dem Amoklauf von München war es in aller Munde: Das Katastrophenwarnsystem „Katwarn“. Per Handy soll es Menschen vor Gefahren warnen – vom Anschlag bis zur Flutwelle. Das Problem: Mindestens zwei Systeme konkurrieren in Baden-Württemberg um die Vorherrschaft. Das Land selbst nutzt ab September die Handy-App „Nina“. Doch das Innenministerium betont, dass jeder Landkreis für sich entscheiden könne, ob er dieses oder ein ganz anderes Warnsystem einsetzt.
Wohin das führen könnte, zeigt das Beispiel Bodenseekreis. Sollte es etwa einen terroristischen Anschlag geben, rät in Zukunft vielleicht die von der Polizei mit Informationen gefütterte Handy-App „Nina“, sich von einem bestimmten Gefahrengebiet fernzuhalten. Vielleicht bleibt dieselbe Warnsoftware aber stumm, wenn wegen eines Großbrands giftige Gase durch die Luft wabern. Oder wenn eine Flutwelle droht, Häuser und Straßen zu überschwemmen.
Dafür könnte der Kreis nämlich ein anderes Warnsystem einsetzen, vielleicht „Katwarn“– oder ganz andere Handy-Software. Um das Chaos perfekt zu machen: Es ist sogar denkbar, dass nur ein Bundesland oder einen Landkreis weiter wieder andere Systeme zum Einsatz kommen, um Bürger vor denselben Gefahren zu warnen. Wer nicht die passende Software aufs Handy lädt, erfährt am Ende nur über althergebrachte Systeme wie Radio, Fernsehen und bestenfalls Lautsprecherdurchsagen von einer Gefahr für Leib und Leben.
Noch ist dieses Kommunikationschaos bei Katastrophenwarnungen ein Zukunftsszenario. Unwahrscheinlich ist es aber nicht. Der Grund: Spätestens seit den 1990erJahren gibt es keine bundesweit einheitliche Lösung mehr, um die Bevölkerung vor Katastrophen zu warnen. Bis dahin waren zwischen Kiel und Konstanz die bekannten Luftschutzsirenen Mittel der Wahl, um auf drohende Gefahren aufmerksam zu machen. Sie waren praktisch überall hörbar, ausfallsicher und jedermann bekannt. Mit dem Ende des Kalten Kriegs wurden die Geräte aber in den meisten Städten abgebaut.
Nur in einzelnen Gemeinden gibt es die grauen Teller noch auf den Dächern, vornehmlich zur Alarmierung der Feuerwehr. 2900 sind in BadenWürttemberg noch übrig – von einst mehr als 80 000. Ohnehin dürfte kaum ein Mensch noch wissen, was zu tun ist, wenn der Heulton der Anlagen ertönt: das Radio einschalten und auf Hinweise achten.
Henning Nöh, Kreisbrandmeister im Bodenseekreis, wünscht sich heute diese Sirenen zurück: „Nicht nur wegen Terror und Amokläufen, sondern auch wegen Wetterkatastrophen“, sagt der Feuerwehr- und Zivilschutzexperte. Schließlich haben auch Stürme und Überschwemmungen in den vergangenen Jahren ihre Spuren in der Republik und im Südwesten hinterlassen. Der Wunsch, schnell und ohne Vorlaufzeit davor warnen zu können, ist groß. Nöh sucht deshalb für den Bodenseekreis ein System, mit dem künftig wieder alle Menschen vor allen erdenklichen Katastrophen gewarnt werden können – in der Stadt wie auf dem Land, in großen und kleinen Bereichen, zu jeder Tages- und Nachtzeit.
Es gibt einige Anwärter für ein solches System, das die gute alte Sirene ersetzen könnte. Aber: „Jede Technik hat große Probleme“, sagt Henning Nöh. Da wäre die Idee, Menschen automatisiert per Festnetztelefon vor Katastrophen zu warnen. Das Problem: Längst nicht mehr jeder hat noch einen solchen Anschluss, und viele Telefonanlagen fallen heute – anders als früher – bei einem Stromausfall aus. Auch gab es Ideen, Funkuhren mit einem Katastrophenwarnsystem auszustatten – die sind aber kaum verbreitet. Die Warnung per Radio oder Fernsehen krankt heutzutage daran, dass damit zwar große Regionen, aber keine kleineren Gebiete gezielt gewarnt werden können. Aber da wäre ja noch das Handy, weitverbreitet und als Allheilmittel gepriesen.
Zwar sind auch Handynetze bei Stromausfall und Überlastung vom Ausfall bedroht. Doch es scheint Konsens zu sein, dass die Katastrophenwarnung der Zukunft am ehesten per Handy-App beim Durchschnittsbürger ankommt. Die Voraussetzung: Es müsste ein System geben, das Warnungen aller Art von allen Behörden bündelt und standortspezifisch sicher übermittelt.
Bundesweit konkurrieren derzeit mindestens zwei dieser Systeme um die Vorherrschaft. Das erste heißt „Katwarn“, ist eine im Auftrag der öffentlichen Versicherer in Deutschland entwickelte App, die unter anderem Menschen beim Amoklauf von München aufforderte, das Gefahrengebiet zu meiden. Zwar erreichten die Warnungen viele Menschen – doch es gab auch erhebliche Ausfälle. Das zweite System hört auf den Namen „Nina“und wird vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz entwickelt. Es bietet praktisch dieselben Funktionen, hat wahrscheinlich auch dieselben Tücken und ist öffentlich statt privat finanziert.
Baden-Württemberg hat sich an der Entwicklung beteiligt. Deswegen setzt man im Innenministerium auch auf „Nina“. Ab September gibt es im Land zwei Eingabestationen. Katastrophenmeldungen aller Art sollen im Lagezentrum des Ministeriums per E-Mail, Telefon oder Funk eingehen, dann ausgewertet und von Beamten an „Nina“weitergeleitet werden. Von dort geht die Warnung dann an jene Nutzer, die sich in betroffenen Gebieten aufhalten. „Für uns ist das eine Ergänzung zu den bisherigen Warnmöglichkeiten über Radio oder TV“, sagt Rüdiger Felber, Sprecher des Innenministeriums.
„Nina“zapft Daten der bundesweit befüllten Plattform „Mowas“an, über die auch bundesweite Warnungen laufen. Auf Wunsch kann das Lagezentrum Daten und Meldungen auch in „Katwarn“oder andere Systeme einspeisen, erklärt Felber. Vorgaben wolle man den Kommunen diesbezüglich aber nicht machen. Weil einige, zum Beispiel Böblingen, lieber selbst Daten in ein Warnsystem einzuspeisen, wollen sie lieber „Katwarn“statt „Nina“nutzen, wo ohne Freigabe des Innenministeriums nichts gemeldet werden kann.
Henning Nöh überlegt derzeit auch, eines der beiden Systeme für den Bodenseekreis anzuschaffen. Dafür soll bis 2018 die Rettungsleitstelle im Kreis umgerüstet werden. Der Feuerwehrmann liebäugelt nach eigener Aussage eher mit „Nina“als mit „Katwarn“– oder aber mit einer ganz anderen Lösung: „Wir haben auch schon überlegt, eine eigene App zu machen“, sagt er offen. Definitiv spüre er Druck, bis 2018 etwas auf die Beine zu stellen. Und definitiv sei noch nichts entschieden.
Nur wenige Kilometer von Nöhs Dienstsitz in Friedrichshafen hat das Polizeipräsidium Konstanz seinen Sitz. Auch hier denkt man offenbar darüber nach, dem Katastrophenschutz am Bodensee Beine zu machen. „Wir sind jetzt schon in der Lage, über das System ,Nina’ Warnungen auszugeben“, sagte ein Sprecher des Präsidiums jüngst auf Nachfrage der „Schwäbischen Zeitung“. Letztlich liege die Entscheidung über diese Frage aber allein beim Polizeipräsidenten des Landes. Ob es denn auch Gespräche mit dem Bodenseekreis gebe, sich in der Frage eines einheitlichen Warnsystems abzustimmen? „Nein, das ist nicht nötig“, sagt der Sprecher. Wie Kommunen oder Feuerwehren die Bevölkerung vor Katastrophen warnen, sei eben deren Sache. „Da wurden keine Gespräche geführt“, so der Polizist.
Der Bodenseekreis und die für den Kreis zuständige Polizei gehen also offensichtlich eigene Wege auf der Suche nach einem neuen Katastrophenwarnsystem. „Die Polizei hat da offenbar ein gesundes Selbstbewusstsein“, kommentiert Kreisbrandmeister Nöh die Aussagen von der anderen Seeseite spitz. Weil es auch vom Land Baden-Württemberg keine klaren Anweisungen gebe, greift er offenbar zur Selbsthilfe: „Wir müssen doch jetzt etwas tun.“
Damit ist er nicht allein: Unterstützung gibt es von seinem Kollegen Otto Feil aus dem Ostalbkreis. Der Kreisbrandmeister bilanziert: „Wir können die Bevölkerung Stand jetzt nicht mehr richtig warnen.“Derzeit setzt der Kreis im Notfall auf Lautsprecherwagen. Feil fühlt sich seit Jahren hingehalten: „Wir warten weiter auf eine eindeutige Empfehlung von Bund oder Land.“Unentschlossen ist auch der Kreis Tuttlingen, der auch dabei ist, ein System auszuwählen. Der Erste Landesbeamte Stefan Helbig sagt über seine Erkenntnisse zu der vom Innenministerium präferierten „Nina“-Lösung: „Das ist unhandlich und nicht so positiv bewertet worden.“
Selbst Baden-Württembergs Gemeindetag kennt das Problem. Das Thema Katastrophenschutz via Handy-App sei zwar in den Kommunen landauf, landab ein Thema. Doch viele testeten unterschiedliche Systeme. „Wir sind da in einer Erprobungsphase. Es geht darum, welches System am besten geeignet ist, um Menschen jederzeit zu erreichen“, sagt Referentin Iris Bohlen. Ob, und wenn ja, welches System der Gemeindetag empfehle, entscheide sich erst nach den laufenden Gesprächen mit Kommunen und Behörden.
Vielleicht wird der Friedrichshafener Kreisbrandmeisteroder einer seiner Kollegen am Ende genug von diesem Wirrwarr an Systemen haben. Im Hinterkopf scheint Nöh nämlich mit dem Gedanken zu spielen, künftig ganz ohne Handy vor Katastrophen zu warnen: Mit modernen Sirenen lässt sich nämlich nicht mehr nur Geheule, sondern auch Sprache gezielt verbreiten. Das würde wirklich wieder jeden Bürger erreichen – egal welche App gerade auf dem Handy läuft.
„Wir warten weiter auf eine eindeutige Empfehlung von Bund oder Land.“ „Da wurden keine Gespräche geführt.“