Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
„Ich weiß, wie es ist, im Stich gelassen zu werden“
Die mehrfache Boxweltmeisterin Rola El-Halabi im Interview – Die Ulmerin übernimmt die Schirmherrschaft des Zivilcouragepreises in Weingarten
WEINGARTEN - Der Zivilcouragepreis 2016 in Weingarten bekommt eine prominente Schirmherrin. Rola El-Halabi, mehrfache Box-Weltmeisterin, hat sich bereit erklärt, das ganze Projekt und auch die Preisverleihung am 24. November zu betreuen. Und sie weiß, wovon sie spricht. Im April 2011 hatte ihr Stiefvater direkt vor einem Kampf in der Umkleidekabine viermal auf sie geschossen. Im Interview mit Oliver Linsenmaier spricht sie über Depressionen und Angstzustände, warum sie sich abends kaum mehr auf die Straße traut und warum Zivilcourage auch für sie persönlich sehr wichtig ist.
Warum ist Ihnen das Thema wichtig? Ich bin ja selbst schon einmal Opfer eines verrückten Menschen geworden und habe am eigenen Leib gespürt, wie es ist, wenn jemand keine Zivilcourage zeigt. Ich war in der Umkleidekabine mit meinem kompletten Team, also mit Menschen, denen ich blind vertraut habe und die mir in Stresssituationen, wie einem Boxkampf, beigestanden sind. Als mein verrückter Stiefvater hereinkam, sind die einfach rausgegangen. Vier starke Männer, Kampfsportler, teilweise ehemalige Soldaten, haben mich einfach stehen lassen und sind gegangen. Ich weiß selbst, wie es sich anfühlt, im Stich gelassen zu werden. Daher lag es mir am Herzen, die Schirmherrschaft zu übernehmen.
Also haben Sie nicht lange gezögert, zuzusagen? Nein, gar nicht. Ich musste nur den Termin abklären, weil wir direkt das anschließende Wochenende (der Zivilcouragepreis wird an einem Donnerstag verliehen, Anm. d. Red.) eine Hochzeit von sehr guten Freunden haben. Das war das Einzige, worüber ich nachdenken musste.
Sie hatten Ihre eigene Erfahrung angesprochen. Wie prägt so ein Erlebnis? Nach dem Vorfall habe ich mich sehr zurückgezogen und niemandem mehr getraut, außer meinem Mann. Sogar mit meiner Mutter hatte ich zeitweise den Kontakt abgebrochen. Aus Angst vor meinem Stiefvater hat sie dann auch nicht vor Gericht aussagen können. Ich verstehe mittlerweile Menschen, die aus Angst keine Zivilcourage ergreifen können. Ich verstehe, wenn Menschen Angst haben. In der heutigen Zeit laufen so viele verrückte Menschen herum, daher will ich sie nicht verurteilen. In Panik macht man manchmal Dinge, die man sonst vielleicht nicht machen würde.
Waren Sie schon mal in so einer Situation? Ich war noch nie in einer Situation, dass ich jemandem hätte helfen können. Ich weiß nicht, wie ich handeln würde. Davonrennen würde ich aber nicht.
Hat sich das Bewusstsein gerade in den vergangenen Monaten mit den Terroranschlägen in Europa und auch Deutschland verändert? Ich kann nicht für andere Menschen sprechen, aber für mich hat sich definitiv etwas verändert. Aus welchen Gründen die das machen, spielt für mich letztlich keine Rolle. In der heutigen Zeit gibt es so viel Hilflosigkeit, so viele verzweifelte und depressive Menschen. Ich bin seit einem Jahr Mutter, und da macht man sich natürlich mehr Gedanken. Ich gehe nachts nicht raus, wenn es nicht sein muss. Und wenn, dann gehe ich mit meinem Hund. Aber ich lebe auf jeden Fall mit einer gewissen Angst.
Hat das auch etwas mit den Erlebnissen mit Ihrem Stiefvater zu tun? Wahrscheinlich schon. Ich hatte Depressionen, Angstzustände, Panikzustände und Alpträume. Das ist jetzt zwar schon fast fünfeinhalb Jahre her, aber ich habe sie immer noch. Nicht mehr ganz so extrem, aber es gibt immer wieder solche Schubphasen. In den letzten Monaten wieder etwas mehr, weil die Entlassung meines Stiefvaters kurz bevorsteht. Von daher packt mich jetzt wieder die Panik, die Angst um meine Tochter und meine Familie. Ich weiß ja nicht, wie er denkt, wie er handeln wird, und ob er überhaupt etwas will.
Hat diese Tat auch Sie als Menschen verändert? Das verändert einen Menschen. Wer solche Gewalttaten erlebt, den prägt das für sein ganzes Leben. Manche Menschen bricht es und manche, wie mich, bricht es nicht.
Zurück zur Zivilcourage. Das hat viel mit Überwindung zu tun. Gerade als Boxerin wissen Sie sicher, wie man sich überwinden kann. Pauschale Tipps sind da sehr schwierig. Es ist eine absolute Stresssituation. In meinem speziellen Fall hatte ich ja sogar Boxhandschuhe an, aber ich war gelähmt. Ich war geschockt und stand einfach nur da. Ich konnte mich weder nach links oder rechts bewegen. Ich war wie angewurzelt. Bei jemandem, der nicht angegriffen wird, sondern helfen kann, sind sicherlich die ersten Sekunden am wichtigsten. Wenn man sich die ersten Sekunden nicht traut, dann wird man es auch nicht machen. Die Überwindung ist letztlich ein kurzer Moment, in dem man sich entscheiden muss. Wenn man sich überwindet, zu helfen, bin ich mir zu 100 Prozent sicher, dass da jeder über sich hinauswächst. In Stresssituationen entwickelt jeder Mensch Kräfte und eine Selbstsicherheit, die er sonst nicht hat. Und nur weil sich die meisten Menschen im Schockzustand dagegen entscheiden, heißt das nicht, dass sie schlechte Menschen sind.
Helfen da Erfahrungen aus dem Ring? Das kann man mit Kampfsport auch nicht vergleichen. Ich bin im Ring ja gefasst und weiß, worauf ich mich einlasse, was auf mich zukommt. Das ist bei einem Angriff etwas vollkommen anderes.