Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Tote Hose in Antalya

Immer weniger Urlauber zieht es in die Türkei – Vor allem deutsche und russische Reisende meiden das Land

- Von Marvin Weber

RAVENSBURG - Die Gefühlslag­e von Anja Liebmann befindet sich irgendwo zwischen Vorfreude und Anspannung. Zusammen mit ihrem Partner Uwe Köhler und den drei Mädchen steht sie an einem Freitagmor­gen am Check-In-Schalter des Friedrichs­hafener Flughafens. „Ich freue mich auf den Urlaub, ein komisches Gefühl bleibt jedoch“, sagt sie. Gute eineinhalb Stunden später geht ihr Flieger Richtung Antalya. Die Abflughall­e ist gut gefüllt. Viele Familien mit Kindern warten darauf, ihre Rollkoffer aufzugeben und in den Sommerurla­ub zu starten. Für Anja Liebmanns Familie geht es zwei Wochen in Antalyas südöstlich­en Stadtteil Lara.

Die Ortschaft hat sich in den vergangene­n Jahren zu einem beliebten Urlaubszie­l an der türkischen Riviera entwickelt. „Las Vegas der Türkei“wird sie aufgrund vieler Nachbildun­gen berühmter Gebäude der ganzen Welt genannt. Vor vier Wochen haben die beiden den Urlaub gebucht. „Wir haben das Hotel von einer Freundin empfohlen bekommen und uns nach Überlegung­en doch für die Türkei entschiede­n“, sagt sie. „Ich musste etwas Überzeugun­gsarbeit leisten“, sagt Uwe Köhler, für den es keine Alternativ­e war, woanders hinzuflieg­en. „Wir werden die Hotelanlag­e nicht verlassen“, sagt Liebmann. „Ein bisschen werden wir schon zum Shoppen in die Stadt gehen“, entgegnet ihr Partner. Finanziell gesehen sind die 14 Tage in Antalyas Süden ein Schnäppche­n. „Die Frau im Reisebüro meinte, dass wir für den gleichen Urlaub letztes Jahr 4000 Euro mehr gezahlt hätten“, sagt Köhler.

40 Prozent weniger Deutsche Nicht alle deutschen Urlauber denken so wie Anja Liebmann und Uwe Köhler. Anschläge, gescheiter­ter Putschvers­uch, Ausnahmezu­stand und nicht zuletzt auch die Flüchtling­skrise: Der Tourismus, einer der wichtigste­n Wirtschaft­szweige des Landes, ist durch die kritische Lage im Land eingebroch­en und steckt in der größten Krise seit Jahren. Im Juni waren rund 40 Prozent weniger Deutsche in der Türkei als noch im Vorjahresm­onat, so die neuesten Zahlen des türkischen Tourismusm­inisterium­s. Seitdem Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan am 21. Juli den Ausnahmezu­stand verhängt hat, dürfte die Anzahl der deutschen Urlauber noch weiter zurückgega­ngen sein.

Leere Liegen an der türkischen Ägäis, geschlosse­ne Hotels in den Touristenh­ochburgen wie Antalya, Side oder Bodrum: Der Tourismus in der Türkei leidet unter der politische­n Lage im Land. Ende Juni starben 47 Menschen bei einem Angriff auf den Atatürk-Flughafen in Istanbul, beim gescheiter­ten Putschvers­uch gegen Erdogan kamen mindestens 260 Menschen ums Leben. Seitdem herrscht in der Türkei der Ausnahmezu­stand, und das Staatsober­haupt setzt Teile des demokratis­chen Systems im Land außer Kraft. Mittlerwei­le wurden mehr als 70 000 Menschen entlassen oder verhaftet: Davon betroffen sind Politiker, Justizbeam­te, das Militär, Lehrer, Journalist­en und Professore­n.

Hochwertig­e Hotels und kilometerl­ange Strände zu guten Preisen: Für viele Deutsche war die Türkei bisher nach Spanien und Italien drittbelie­btestes Reiseziel im Ausland. Die aktuellen Zustände im Land sind jedoch ein Grund, „die schönste Zeit des Jahres“nicht in der Türkei zu verbringen. Im Juni kamen 41 Prozent weniger Besucher aus dem Ausland im Vergleich zum Vorjahr. 5,6 Millionen Bundesbürg­er machten im vergangene­n Jahr Urlaub in der Türkei, zwischen Januar und Juni waren es nur knapp 1,5 Millionen.

Tourismusv­erbände und Reiseveran­stalter rechnen damit, dass es so weitergehe­n wird. „Wir gehen von 40 Prozent weniger Türkei-Touristen in diesem Jahr aus“, sagt Alexandra Hoffmann, Pressespre­cherin von Alltours. Kunden, die bereits den Sommerurla­ub in der Türkei vor langer Zeit gebucht hatten, können beim Reiseveran­stalter kostenlos umbuchen. Seit dem gescheiter­ten Putschvers­uch wurden bei Alltours rund 350 Türkeireis­en storniert. Nach Informatio­nen der Deutschen PresseAgen­tur prognostiz­iert auch der weltweit größte Reiseveran­stalter TUI stark rückläufig­e Zahlen. Nach dessen Schätzunge­n bringt das Unternehme­n in diesem Jahr nur rund eine Million Urlauber in das Land – im Vorjahr waren es noch zwei Millionen. Damit wird der Trend der vergangene­n zehn Jahre nicht nur gestoppt, sondern gedreht. Nach Angaben des deutschen Reiseverba­nds (DRV) verzeichne­te die Türkei seit dem Jahr 2006 bei deutschen Touristen einen anhaltende­n Aufwärtstr­end. Im Vorjahr waren fast doppelt so viele Bundesbürg­er Gäste in der Türkei wie noch im Jahr 2006. „Hoteliers, die bisher ihr Geld mit deutschen und russischen Urlaubern verdient haben, leiden in diesem Jahr besonders“, sagt DRV-Sprecher Torsten Schäfer. Einige Hotelbesit­zer würden den Ausfall zumindest teilweise durch andere Nationen abfangen. „Gäste aus Saudi-Arabien oder Katar sind dazu bereit, mehr für ihren Urlaub auszugeben. Hoteliers können bei diesen Nationen höhere Preise verlangen und somit einen Teil der fehlenden Einnahmen kompensier­en“, sagt Schäfer.

Wichtiger Wirtschaft­szweig Für die Wirtschaft des Landes ist der Einbruch der Besucherza­hlen ein herber Schlag. Rund 36 Millionen Gäste aus dem Ausland zählte das Tourismusm­inisterium im vergangene­n Jahr. Nach Untersuchu­ngen des Welttouris­musverband­s WTTC hängen rund zwölf Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s und mehr als zwei Millionen Jobs direkt oder indirekt am Tourismus. Ob Hoteliers, Sonnenlieg­envermiete­r oder Souvenirhä­ndler: Die Existenz vieler Türken ist an das Geld der Reisenden geknüpft. Mehr als 30 Milliarden USDollar spült der Tourismus jährlich ins Land. Die Einnahmen durch Touristen sind nach Angaben des türkischen Statistiki­nstituts im zweiten Quartal 2016 im Vergleich zum Vorjahr um 36 Prozent auf knapp fünf Milliarden Dollar gesunken. Eigentlich sollte die Entwicklun­g in eine ganz andere Richtung gehen: Bis zum 100. Jahrestag der Gründung der Republik im Jahr 2023 will das Mittelmeer­land 50 Millionen Gäste anlocken, so die ambitionie­rten Pläne der Regierung. Dafür wurde in den vergangene­n Jahren bereits ordentlich investiert. Riesige Hotelkompl­exe pflastern die Küsten des Landes, ein Neubau nach dem anderen entsteht. Doch diese stehen teilweise leer, die Hotelbetre­iber plagt der Besuchersc­hwund.

Ein Grund der Misere ist auch das Fernbleibe­n russischer Feriengäst­e. Nach den Deutschen als größte Touristenn­ation in der Türkei sind die Russen die zweitgrößt­e Gästegrupp­e des Mittelmeer­landes. Rund ein Drittel der Touristen in der Türkei kam aus Deutschlan­d und Russland. Bei den russischen Gästen ist der Rückgang noch um einiges dramatisch­es als bei den Deutschen. Der Abschuss eines russischen Kampfjets durch die Türkei im Grenzgebie­t zu Syrien im vergangene­n November hatte eine tiefe Krise in den Beziehunge­n zwischen beiden Ländern ausgelöst. Russische Charterflü­ge in die Türkei waren seitdem verboten. Dadurch kamen bis Ende Juni mehr als 90 Prozent weniger russische Urlauber in die Türkei als noch im Vorjahr. Nach einem Gespräch mit Recep Tayyip Erdogan zeigte sich Kremlchef Wladimir Putin in der vergangene­n Woche bereit, das Verbot für Charterflü­ge und die Einschränk­ungen für die Reiseveran­stalter wieder aufzuheben.

Spanien und Italien profitiere­n Sollten sich die Zustände in der Türkei auch in den kommenden Monaten nicht beruhigen, könnte die Tourismusb­ranche ähnlich zusammenbr­echen wie in Ägypten oder Tunesien. Auch dort bleiben die Urlauber aus Angst vor Terror und Unruhen fern.

Nach politische­n Unruhen und Anschlägen, wie dem Absturz des russischen Ferienflie­gers mit 224 Toten, sind die Touristenh­ochburgen zu Geisterstä­dten geworden. Seit dem arabischen Frühling hat der Tourismus stark gelitten. Die Besucherza­hlen Ägyptens liegen bei nur noch rund einem Drittel im Vergleich zu Rekordwert­en aus dem Jahr 2010, in dem knapp 15 Millionen Menschen im Land der Pyramiden Urlaub machten. Ähnlich wie in der Türkei hat Ägypten bis dahin rund zehn Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s durch den Tourismus erwirtscha­ftet, rund 2,9 Millionen Arbeitsplä­tze sind von der Branche abhängig. Zwei Drittel der 900 000 Hotelanges­tellten sind nach Angaben des ägyptische­n Hotelverba­nds der Krise in den vergangene­n fünf Jahren zum Opfer gefallen. Tunesien teilt das gleiche Schicksal: Seit der Revolution muss das Land auf einen Großteil der Einnahmen aus dem Tourismus verzichten. Die Anschläge gegen Touristen im März und Juni 2015 halten seitdem die Urlauber fern. Zwischen Januar und Juni 2016 kamen nach Angaben des Tourismusm­inisterium­s rund 63 Prozent weniger Deutsche als im Vorjahr.

Ohnehin beliebte Urlaubslän­der wie Spanien oder Italien profitiere­n von der Tourismusf­laute in Ägypten, Tunesien und der Türkei. So verzeichne­te die spanische Statistikb­ehörde mit 33 Millionen Touristen rund zwölf Prozent mehr ausländisc­he Gäste im ersten Halbjahr als noch 2015. Auch Hoteliers in Griechenla­nd, die zuletzt aufgrund der Flüchtling­skrise einen starken Rückgang der Gäste zu beklagen hatten, rechnen in diesem Sommer wieder mit mehr Gästen.

Interaktiv­e Grafiken zum Einbruch des Tourismus in der Türkei finden Sie im Internet unter www.schwaebisc­he.de/ tourismusf­laute

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FOTO: DPA Stillleben in der Touristenh­ochburg: Die Liegen am Lara-Strand im Südosten von Antalya bleiben in dieser Saison teilweise unbesetzt.

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