Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Wo geht’s denn hier nach draußen?
Thomas Adès’ neue Oper „The Exterminating Angel“bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt
SALZBURG - Sind die drei Schafe echt, die vor Beginn der Vorstellung unbeweglich auf der Bühne stehen? Ihr Hüter vertritt sich die Füße. Aus dem Off läuten leicht verstimmte Kirchenglocken. Während man sich noch fragt, ob hier aus Tierschutzgründen vielleicht doch Attrappen verwendet werden, hat das Publikum Platz genommen. Das Glockenläuten wird lauter und bricht plötzlich ab. Auf einmal bewegen sich die Schafe. Bühnenarbeiter führen sie hinaus und beseitigen ihre Hinterlassenschaften.
So fängt Tom Cairns’ Salzburger Inszenierung von Thomas Adès’ neuer Oper „The Exterminating Angel“an. Bei den Salzburger Festspielen wurde sie aus der Taufe gehoben. Den Auftrag zu diesem dreiaktigen Opus hat der englische Komponist noch vom vormaligen Intendanten Alexander Pereira erhalten. Nachdem der mittlerweile 90-jährige György Kurtág eine vor langer Zeit für Salzburg bestellte Beckett-Oper – sein erstes Werk für die Musikbühne! – immer noch nicht geliefert hat, kam Adès’ „Würgeengel“gerade recht.
Zügige Verrohung Die Aufführung im Haus für Mozart ist eine Koproduktion der Festspiele mit der Londoner Covent Garden Opera, der New Yorker Met und der Kopenhagener Oper. Das Libretto schrieb Tom Cairns in enger Zusammenarbeit mit Adès. Es basiert auf dem Drehbuch von Luis Buñuel und Luis Alcoriza zum Film „El ángel exterminador“. Eine großbürgerliche Gesellschaft trifft nach einem Opernbesuch in der Villa von Edmondo und Lucía de Nobile ein. Das Dienstpersonal macht sich merkwürdigerweise fluchtartig aus dem Staub.
Die feinen Leute wollen sich ihre Party dadurch nicht vermasseln lassen. Man plaudert, scherzt, trinkt und flirtet. Dass irgendetwas nicht stimmt, zeigt sich erst allmählich. Einige Gäste wollen gehen, lassen sich dann aber doch zum Bleiben überreden. Der Horrortraum aller Gastgeber zeichnet sich ab: Die eingeladenen Freunde richten sich ungefragt auf eine Übernachtung ein. Schließlich wird klar, dass niemand das Haus verlassen kann, obwohl die Türen offen sind.
Je länger die Gemeinschaft sich selbst ausgeliefert ist, desto mehr fallen die Fassaden. Panik bricht aus. Zivilisatorische Standards weichen archaischem Überlebenskampf. Ein Doktor mahnt, Vernunft zu bewahren, kann aber nicht verhindern, dass Aberglauben und Barbarei ausbrechen. Ein Gast stirbt, ein junges Paar begeht Selbstmord, drei Frauen mutieren zu Hexen und fordern ein Menschenopfer. Erst spät naht Rettung. Die Primadonna Letizia hatte sich anfangs geweigert, „eine Arie von Adès“zu singen. Jetzt holt sie das nach. Der Bann ist gebrochen. Die Gäste begeben sich ins Freie.
Cairns hat sich eng an Buñuels Vorlage von 1962 gehalten, musste aber das Personal reduzieren. Dennoch tummeln sich in der Oper mehr als 20 Gesangssolisten. Hildegard Bechtlers Bühne und Kostüme beschwören die Entstehungszeit des Films. In diese mondän-bourgoise Sixties-Welt brechen immer wieder surreale Bilder ein. Die Garderobe mutiert zur Toilette, ein Bärenungeheuer taucht auf (Video: Tal Yarden). Die Szene wird immer düsterer (Licht: Jon Clark). Ein Gast fliegt plötzlich wie ein Vampir durch die Lüfte.
Gesungen wird auf hohem Niveau Verstärkt wird die unheimliche Atmosphäre durch die virtuos mit geborgten Tonfällen spielende Musik. Solo- und Ensemblegesang kommen kantabel zur Geltung. Das Orchester darf sich in üppigen Farbmischungen austoben. Tonale Stile und Gesten werden meisterhaft überwuchert von Dissonanzen. Alles ist dem szenischen Geschehen akustisch versiert auf den Leib geschneidert. Da Adès (Jahrgang 1971) in Salzburg selbst dirigiert und sein Librettist das Stück inszeniert hat, konnte man bei dieser Produktion gleich zwei Posten sparen.
Gesungen wird durchweg auf hohem Niveau. Im Gedächtnis bleiben Audrey Luna als brillant hysterische Zicke Letizia mit stratosphärisch hohem, schrill karikierendem Sopran, John Tomlinson (Doctor), Charles Workman (Edmundo) sowie Amanda Echalaz, Anne Sofie von Otter, Christine Rice und Sophie Bevan. Auch der Salzburger Bach-Chor (Einstudierung: Alois Glassner) und das Radio-Symphonieorchester Wien geben ihr Bestes. Das Festspielpublikum applaudiert begeistert.
Weitere Aufführungen bei den Salzburger Festspielen am 5. und 8. August im Haus für Mozart