Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Das Krokodil will zuschnappe­n

Der Ulmer Zehnkämpfe­r Arthur Abele ist nach langer Leidenszei­t plötzlich Mitfavorit bei Olympia

- Von Jürgen Schattmann

ULM - Es gibt wohl keinen deutschen Olympionik­en, auf den die Redewendun­g „Phönix aus der Asche“so passt wie für den Ulmer Zehnkämpfe­r Arthur Abele. Der Phönix, altgriechi­sch für wiedergebo­rener Sohn, ist ein mythischer Vogel, der am Ende seines Lebens verbrennt, um aus dem verwesende­n Leib oder aus seiner Asche wieder neu zu erstehen. Nun ist es nicht so, dass Arthur Abele einmal fast verbrannt wäre, aber für einen Sportler war er eigentlich tot. Frank Busemann hat das gesagt, der frühere WM-Zweite, mit Blick auf Abeles Leidenszei­t, die ihn fast fünf Jahre Wettkampfz­eit kosteten. Zu viel für einen normalen Menschen.

Eine fast schon chronische Schambeine­ntzündung, ein Unterschen­kelbruch, Ellenbogen­sehnenriss, diverse Muskelbünd­el- und -faserrisse, ein Bandscheib­envorfall, Nabel- und Leistenbru­ch, insgesamt acht gebrochene Finger, im letzten April noch ein Achillesse­hnenriss – Arthur Abele könnte mit seinen Verletzung­en eine eigene Pschyrembe­l aufmachen. „Sie können froh sein, wenn sie danach wieder laufen können“, habe ihm mal ein Arzt gesagt, nach welcher Verletzung, wisse er nicht mehr, sagt Christophe­r Hallmann, der Abele seit 2013 beim SSV Ulm trainiert und einst als Zehnkämpfe­r noch gegen ihn antrat. Abele aber lachte nur – und kämpfte sich zurück. Den Glauben nicht zu verlieren, immer weiter und nur sein Ding zu machen, im Moment zu sein, allein auf die Aufgabe fokussiert zu sein – das könne kein Zehnkämpfe­r der Welt so gut wie Abele, glaubt Hallmann, „das ist schon wahnsinnig“. Die Resilienz seines Athleten, den Widerstand gegen alle Rückschläg­e, erklärt sich der Hamburger mit Abeles Kindheitst­rauma, einem Sturz vom Heuboden, bei dem der damals elfjährige Turner fünf Meter in die Tiefe fiel. „Ich hatte einen Halswirbel­bruch, fast wäre ich gelähmt gewesen“, sagte Abele einmal. Der kleine Turner aber gab nicht auf, er wurde Läufer und Werfer. 19 Jahre später ist Arthur Abele einer der größten deutschen Athleten.

Als Abele vor sechs Wochen in Ratingen bei nasskaltem Wetter und unter dem Druck, die Olympianor­m schaffen zu müssen, 8605 Punkte erzielte und seine Bestleistu­ng um 128 Zähler gesteigert hatte, löste das ein kleines Beben in der Szene aus. Zweiter in der Weltrangli­ste ist er damit hinter dem Weltrekord­ler und Olympiasie­ger Ashton Eaton (USA/8750), der auch in Rio der große Favorit ist.

Der Traum von den 8750 Punkten Hallmann, der Abele in Rio selbst betreuen wird, ist bester Dinge. In Ratingen wollte er Abele noch bremsen: „Ich sagte Alter, was machst Du denn da, wir wollen nur die Norm. Aber Arthur ließ sich nicht aufhalten, und jetzt hat er den Rucksack an.“Soll heißen: den medialen Druck als Mitfavorit. Anderersei­ts liebe es Abele, im Fokus zu stehen, er suche den Kick, also hat Hallmann kein Problem damit, ihn noch mehr zu pushen: „Arthur wird in Rio eine bessere Form haben als in Ratingen“, verspricht er. „Er hat drei Wochen gebraucht, doppelt so lange wie normal, bis er all das emotional und körperlich verarbeite­t hatte und wieder normal trainieren konnte. Er hatte überall Blessuren, wir mussten ihn erstmal wieder zusammenfl­icken. Aber jetzt geht es ihm Klasse. Er wird immer schneller, seine Kraftwerte sind sehr gut. Vor allem über die Hürden und im Weitsprung verspreche ich mir klare Steigerung­en, auch über die 100 Meter, und das sind die punktestär­ksten Diszipline­n. Da sind schon noch 150 Punkte drin.“Dann wären wir bei 8750, bei Ashton Eaton.

Perfekt aber läuft ein Zehnkampf selten, und vor den Unwägbarke­iten ist auch Abele nicht sicher. Man kann überall scheitern, mit dem Stab, dem Diskus, in den Hürden. Abele, der bei seinem Olympiadeb­üt 2008 in Peking verletzt aussteigen musste, hatte in Götzis Kugel-Probleme, keinen der drei Versuche brachte er in die Zone. Niemand ist vor dem Scheitern gefeit, auch Eaton nicht, obwohl der 28-Jährige bis dato keinen Zehnkampf aufgeben musste. Hallmann lässt Grübeleien gar nicht erst aufkommen: „Da kann nix mehr schiefgehe­n. Das hört sich immer so einfach an, aber jetzt ist Erntezeit für Arthur. Jetzt ist er endlich mal dran.“

Der 33-Jährige, früher Fitnesscoa­ch der Hockey-Nationalma­nnschaft, wird nicht nur der jüngste deutsche Leichtathl­etiktraine­r in Rio sein, sondern mutmaßlich auch einer der forscheste­n. Als Profilbild bei Whatsapp brüllt bei Hallmann ein Tiger mit furchteinf­lößenden Reißzähnen, im Wettkampf steht er allerdings auf Amphibien. „Wir werden die Krokodilst­aktik anwenden“, sagt er. „Still dasitzen, zuschauen – und dann zuschnappe­n.“

Sollte er tatsächlic­h eine Medaille holen – Rivalen um Silber und Bronze dürften der WM-Zweite Damian Warner aus Kanada und der Franzose Kevin Mayer werden, zudem der Torgauer Kai Kazmirek – wäre Arthur Abele mit seiner Vita ein Kandidat für „Menschen 2016“. Seinen eigenen Menschen 2016 hat der 30-Jährige in Neu-Ulm schon gefunden, Söhnchen Jay Travis, vier Monate jung. Der Kleine traut dem Vater alles zu. Abele hat ein Bild von ihm auf Whatsapp gestellt: „Don’t mess with my daddy“, steht auf seinem BatmanHemd­chen, „legt euch bloß nicht mit meinem Vater an.“Als Emoticons hat Abele eine Flamme, einen Bizeps und eine Zielflagge dazugesell­t.

Der verbrannte Vogel hat sich aufgemacht, Geschichte zu schreiben.

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FOTO: DPA Da hatte er noch die meisten Reserven: Arthur Abele beim Hürdenlauf in Ratingen.

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