Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Die Schweizer ziehen am Stecker
Die Eidgenossen stimmen am Sonntag über einen schnelleren Atomausstieg ab – Laut Umfragen könnte es dafür eine Mehrheit geben
BÖTTSTEIN - Maria Eckert wohnt eigentlich schön: Um ihr ruhiges Domizil herum sind Obstgärten. Danach kommen schmucke Nachbarhäuser – jedoch nicht allzu viele. Der Ort ist klein. Böttstein heißt er und liegt im Hügelland des Schweizer Kantons Aargau unweit der deutschen Grenze. Idylle könnte herrschen. Sie schwindet aber immer, wenn die Rentnerin vom Fenster aus ins Tal der Aare hinunterschaut. Dann hat sie ein Atomkraftwerk vor Augen: Beznau, eine ausgedehnte Anlage mit zwei Reaktoren. Der erste davon ist seit 1969 am Netz. Dies macht ihn nicht nur zum dienstältesten Reaktor der Schweiz, sondern inzwischen auch zum ältesten noch betriebenen Atommeiler der Welt. „Eigentlich gehört er endlich abgestellt“, meint Maria Eckert.
Nach 45 Betriebsjahren vom Netz Dem Wunsch kann sie am Sonntag eine Tat an der Wahlurne folgen lassen: In der Schweiz wird nämlich über einen beschleunigten Atomausstieg abgestimmt. Dahinter stecken die eidgenössischen Grünen. Sie wollen generell jeden Reaktor nach 45 Betriebsjahren aus dem Verkehr ziehen. Stimmen die Eidgenossen zu, müssten drei der fünf nationalen Meiler im nächsten Jahr vom Netz gehen. Beznau wäre komplett betroffen, der eine Altreaktor sogar überfällig. Mühleberg im Berner Land hätte sich auch erledigt. Rund 15 Prozent der Schweizer Energieproduktion würden wegfallen.
Die möglichen Folgen sind gegenwärtig schwer überschaubar. Nicht nur die Stromversorgung der Schweiz müsste neu geplant werden. Es stellt sich auch die Frage, ob benachbarte deutsche Gebiete im südlichen Schwarzwald oder dem Bodenseeraum unter einer Ad-hoc-Abschaltung leiden könnten. Zusätzlich kämen auf die Eidgenossenschaft wohl Schadensersatzforderungen in Milliardenhöhe durch die betroffenen Energiekonzerne zu.
Falsch vemessener Reaktordeckel Für den Moment ficht dies alles Maria Eckert nicht an. Sie hat einfach genug von den Reaktoren im Tal, besonders vom ältesten: „So richtig weiß doch wohl keiner, in welchem Zustand er ist.“In einem schlechten, heißt es von den Grünen. Zumindest hat die Zahl der Zwischenfälle beim Betrieb des Altreaktors in den vergangenen Jahren zugenommen. Notiert wurde dabei auch ein besonders skurriles Ereignis: Demnach passte ein neuer, für 50 Millionen Franken bestellter, 52 Tonnen schwerer Deckel für den Reaktordruckbehälter nicht auf den selbigen. Falsch gemessen. Aber dies ließ sich noch mit überschaubaren Kosten beheben.
Ganz andere Sorgen riefen die vergangenes Jahr von Ökoverbänden geäußerten Bedenken in Sachen Erdbebenstandhaftigkeit hervor. So liegt die berüchtigte Störzone des Oberrheingrabens in der Nachbarschaft. Aber weder der erste Beznauer Meiler noch sein baugleicher, 1971 fertig gewordener Bruder-Block sind nach modernstem Standard abgesichert. Die Nachricht schlug Wellen bis weit in den Bodenseeraum hinein. Von dort gesehen befindet sich Beznau im Westen. Und am Bodensee kommt der Wind hauptsächlich aus dieser Richtung. Eine Reaktorkatastrophe würde also auch weit abgelegene Städte wie Lindau berühren. Von einer aufwendigen Nachrüstung wollte der Kraftwerksbetreiber Axpo jedoch nichts wissen – zumal die nationale Atomaufsichtsbehörde Ensi den Zustand von Beznau noch im Jahr 2013 als akzeptabel eingestuft hatte.
Bemerkenswerterweise hat es aber heuer eine Neubewertung gegeben. Ensi fordert inzwischen eine verschärfte Berechnung des Erdbebenrisikos für die Standorte von Atomkraftwerken. Die einst im Lande oft vorhandene Nuklearfreundlichkeit scheint zu schwinden. Dies zeigt sich auch im beschaulichen Böttstein. Immer wieder ist zu hören, dass mit der Kernkraft Schluss sein sollte. „Vielleicht nicht sofort. Aber lange zögern sollte man auch nicht“, sagt etwa Thomas Graber, Wirt des örtlichen „Burestübli“. Heinz Eckert, ein Rentner, der um mehrere Ecken herum mit der bereits erwähnten Maria Eckert verwandt ist, meint: „Ich habe eigentlich der Technik getraut. Aber ich weiß jetzt auch nicht so richtig. Zug um Zug sollten wir aussteigen.“
Stimmung ist gekippt Bei einem Böttstein-Besuch vor acht Jahren hatte das bei einer Umfrage unter den Bürgen mehrheitlich noch anders geklungen: „Wir brauchen den Strom, wir brauchen die Arbeitsplätze des Beznauer Kraftwerks.“Seinerzeit war es darum gegangen, ob dort nicht sogar ein dritter Reaktor errichtet werden könnte. Die Schweizer Regierung war durchaus geneigt, Neubauten zu akzeptieren. Dann folgte 2011 die Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima. Die Planungen hatten sich damit erledigt. Der Bundesrat läutete das Ende der nuklearen Ära ein – jedoch höchst schwammig.
So sollte die Höchstbetriebsdauer eines Reaktors auf 50 Jahre begrenzt sein. Bei einer vermeintlichen technischen Tüchtigkeit der Anlage, hieß es, sei aber eine Verlängerung möglich.
Diese diffusen Ausstiegsaussichten sind der Hintergrund für das Referendum am Sonntag. Die Grünen wollen Nägel mit Köpfen machen. Nach den jüngsten Umfragen könnte dies sogar gelingen. Zumindest unter der Bevölkerung zeichnet sich eine Mehrheit für den raschen Ausstieg ab. Für eine gesetzliche Regelung müsste aber noch eine Mehrheit der Kantone zustimmen. Hier scheint eher ein Patt zu herrschen.
Indes haben sich die betroffenen Energiekonzerne in Stellung gebracht. Sie drücken mehrere Probleme: Weder die Endlagerfrage noch die Finanzierung eines Abrisses ist vom Staat her geklärt. Zudem wären bei einem raschen Ausstieg alle wirtschaftlichen Planungen Makulatur. Beznau-Betreiber Axpo ließ deshalb verlautbaren: „Eine politisch motivierte Außerbetriebnahme würde eine Entschädigungspflicht des Bundes auslösen.“
Unternehmen droht mit Klage Bei Axpo spielen neben Beznau noch zwei weitere, modernere Atomkraftwerke eine Rolle: Leibstadt unweit von Beznau sowie Gösgen am Oberlauf der Aare. An ihnen ist das Unternehmen jeweils mit rund 25 Prozent beteiligt. Sie würden zwar nicht sofort stillgelegt, aber doch vor der geplanten Zeit vom Netz müssen. Insgesamt, rechnet Axpo, würde dem Unternehmen ein Schaden von 4,1 Milliarden Franken entstehen. Zahlt der Bund nicht, will man klagen.
Damit hat auch Alpiq gedroht, ein zweiter Energiekonzern. Er mischt bei den beiden moderneren Kraftwerken mit. Dort stellt sich die Chefetage eine Entschädigung in Höhe von rund 2,5 Milliarden Franken vor. Wobei Alpiq nicht einmal Wert darauf legt, an der Atomkraft festzuhalten. Anfang November drang aus einer Sitzung der eidgenössischen Energiekommission Interessantes nach außen. Demnach wollte Alpiq seine Atomanteile an den französischen Energieriesen EDF übergeben – offenbar kostenlos. Doch dieser wollte das Geschenk nicht. Eine offizielle Bestätigung solcher Gespräche gibt es nicht. Dafür teilt Alpiq mit: Gegenwärtig könnten in der Schweiz „Atomkraftwerke nicht wettbewerbsfähig betrieben“werden.
Mehr Stromimporte Hintergrund der roten Zahlen ist, dass der europäische Energiemarkt mit hoch subventioniertem Ökostrom überschwemmt wird. Die Schweizer Grünen nehmen dies wiederum zum Anlass, eine beim Atomausstieg befürchtete Versorgungslücke für unsinnig zu erklären. Doch das Problem liegt eventuell woanders – nämlich bei den Leitungen. Der schweizerische Netzbetreiber Swissgrid geht unter anderem davon aus, dass ohne die Kernkraftwerke mehr Strom importiert würde. Dies könne zu einer höheren Belastung der entsprechenden Leitungen führen – auch von solchen im angrenzenden Baden-Württemberg. Olaf Peter Eul, Sprecher der deutschen Bundesnetzagentur für Elektrizität, erwartet jedoch im Südwesten „für die Versorgungssicherheit keine Veränderung“. Auf Schweizer Seite kann man sich dagegen vorstellen, dass sie zumindest im Grenzgebiet „angespannter“wird.
Nur wenige Atombefürworter Aber nochmals zurück nach Böttstein. Nach längerem Suchen lassen sich doch zwei Leute finden, die unbedingt Atomkraftwerke weiterbetreiben wollen: Sandra Baumann und Walter Carrozzo. „Wir wären doch doof, wenn wir unsere Kraftwerke abschalten und dann den Strom importieren müssten“, sagen die beiden. Sie kommen aus einem Nachbarort und bringen die Grünanlagen des Böttsteiner Schlosses vor dem Winter in Ordnung. Im 400 Jahre alten Hauptgebäude ist ein Restaurant untergebracht. Auch dort neigt man eher einem langfristigen Weiterbetrieb der Reaktoren unten im Flusstal zu: „Solange die Technik stimmt.“Warum aber ausgerechnet bei Menschen im Schlossbereich Atomkraft noch Mode ist, erschließt sich bei einer Nachfrage im Dorf: Das herrschaftliche Gemäuer gehört dem Stromkonzern Axpo.