Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Vogelwild, surreal, BVB
Rückkehrer Marco Reus überragt beim irren 8:4 gegen Warschau – Abwehr macht Sorgen
DORTMUND (sz/dpa/SID) - Eigentlich hätte Marco Reus gestern den Ball wieder abgeben müssen. Einen halben Tag nach diesem total verrückten Spiel, diesem surrealen 8:4 (5:2) von Borussia Dortmund in der Champions League gegen Legia Warschau entschied der Fußball-Kontinentalverband UEFA, Reus den Schlusspunkt dieser Partie für die Ewigkeit wieder abzuerkennen. Das letzte von zwölf Toren dieses Abends wird in den Annalen nicht Reus’ Unterschrift tragen, sondern wurde nachträglich dem polnischen Verteidiger Jakub Rzezniczak als Eigentor zugeschrieben. Der hatte den Schuss des deutschen Nationalspielers noch abgefälscht. Aus einem Dreierpack wurde so ein Doppeltorschütze. Schwamm drüber, der Mann des Spiels bleibt Reus natürlich trotzdem. So ein Comeback nach fast sechsmonatiger Verletzungspause muss man erst einmal hinlegen, auch wenn der Gegner, zugegeben, nicht gerade eines Champions-LeagueSpiels würdig war und die Partie streng genommen mehr Spektakel als ein fußballerischer Leckerbissen gewesen war.
„Doppelt und dreifach schön“Reus jedenfalls hatte den Spielball dabei, als er kurz vor ein Uhr nachts am Dienstag sichtlich geschafft, aber überglücklich aus der Kabine geschlurft kam. Wer drei Tore in einem Spiel schießt, der bekommt den Spielball, so ist es Tradition. Doch für dieses Comeback genügten sicher auch zwei offizielle Treffer, um diese Ehre zu verdienen, zumal Reus das dritte Tor ja trotzdem geschossen hatte. Dazu kamen zwei Vorlagen und eine alles in allem sehr gute und erfrischende Leistung. Die Dopingprobe hatte ihm weit größere Mühe bereitet als das Spiel zuvor. „Auf dem Spielball lasse ich noch alle Jungs unterschreiben, dann bekommt er einen Ehrenplatz“, sagte er, „so stellt man sich eine Rückkehr vor. Das war doppelt und dreifach schön.“
Die Bühne war perfekt bereitet. Ein vogelwildes, ohnehin nicht allzu bedeutsames Champions-LeagueSpiel mit dem Charakter eines Sonntagskicks auf Tore aus zerknüddelten Jacken im Park, wie ein Kindergeburtstag auf der Kirmes mit unendlich vielen Süßigkeiten. Es war das torreichste Spiel in der Geschichte der Königsklasse. Ohne Verteidigung, ohne überharte Zweikämpfe, ohne im Tiefflug heranrauschende Gegenspieler. Wie erfunden als Aufbauprogramm für den Zocker Reus. „Außergewöhnlich, fantastisch, überragend“habe der 27-Jährige das gemacht, schwärmte sein Trainer Thomas Tuchel, der Reus durchspielen ließ. „Ich habe mich ja nicht totgequält“, sagte der Flügelspieler gelassen.
Beide wussten, dass für den Rekonvaleszenten andere, weit höhere Aufgaben folgen werden. Erst, wenn es bei Eintracht Frankfurt auf die Knochen gibt, wenn es bei Real Madrid um den Gruppensieg geht, wird sich zeigen, ob sein fragiler Körper diesmal wirklich gesund bleiben wird. „Ich fühle mich hundert Prozent stabil. Bis ich hundert Prozent fit bin, wird es dauern“, sagte er und nannte Weihnachten als möglichen Zeitpunkt.
Doch Reus wird auch in den nächsten Spielen benötigt. Bis zur Winterpause steht dem BVB ein schweres Restprogramm in der Bundesliga mit Spielen bei den derzeit punktgleichen Teams aus Frankfurt, Köln und Hoffenheim bevor. Der Sieg gegen den FC Bayern und diese irre Partie soll vergoldet werden. Das Comeback habe „seine Qualität“unterstrichen, „die uns seit Monaten gefehlt hat. Wir haben ihn schmerzlich vermisst“, sagte Tuchel. Weniger gut war er – zu Recht – auf seine Verteidiger zu sprechen, die sich einige Slapstick-Einlagen lieferten. In diesem irren Spiel verschmerzbar, vor allem angesichts des Unterhaltungswerts, aber Warschau ist nicht alle Tage. „Er hat bestimmt ein paar graue Haare bekommen“, mutmaßte Außenverteidiger Sebastian Rode über Tuchels Gemütszustand.