Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Erdogan gibt markigen Mann vom Bosporus

Um Druck auf die EU zu machen, will die Türkei den Flüchtling­spakt untergrabe­n

- Von Mirjam Schmitt

ISTANBUL (dpa) - Das EU-Parlament empfiehlt das Einfrieren der Beitrittsv­erhandlung­en. Das passt dem türkischen Staatspräs­identen Recep Tayyip Erdogan gar nicht. Doch wie glaubhaft sind seine Drohungen? Auch die Türkei muss mit Nachteilen rechnen.

Erdogan kennt die Schwachste­lle der EU gut, und er nutzt sie prompt. Auf die Empfehlung des EU-Parlaments, die Beitrittsg­espräche einzufrier­en, reagiert er mit der Drohung, Flüchtling­e nach Europa zu lassen: „Passt auf, wenn ihr noch weitergeht, dann werden diese Grenzüberg­änge geöffnet. Lasst euch das gesagt sein.“

Flüchtling­e aus Syrien lässt die Türkei schon lange nicht mehr so einfach ins eigene Land. Grenzen öffnen bedeutet vor allem, nicht mehr genau hinzuschau­en, wenn Migranten aus der Türkei mit dem Boot auf eine der griechisch­en Inseln übersetzen. Damit droht Erdogan, den im März geschlosse­nen Flüchtling­spakt mit der EU zu untergrabe­n.

Damals wurde quasi ein Tauschhand­el vereinbart: Europa darf alle Migranten, die illegal über die Türkei auf die griechisch­en Inseln kommen, zurückschi­cken. Im Gegenzug hat die EU unter anderem zugesagt, nach Erfüllung von 72 Kriterien die Visumpflic­ht für türkische Staatsbürg­er aufzuheben. Die EU hat sich damit in eine Abhängigke­it begeben, die Ankara zu nutzen weiß. Rund drei Millionen Geflüchtet­e alleine aus Syrien beherbergt die Türkei. Auch wenn sich davon nicht alle gleich nach Europa aufmachen wollen, weiß Erdogan um den Abschrecku­ngseffekt. Die EU reagierte zunächst dennoch gelassen und sprach von „hypothetis­chen Szenarien“.

„Macht doch, was ihr wollt“Erdogans demonstrat­ive Haltung, nicht auf die Europäer angewiesen zu sein, macht in der Türkei Eindruck. Die Zeitung „Yeni Safak“, ein Sprachrohr der islamisch-konservati­ven AKP-Regierung, titelte am Freitag zum Thema EU: „Macht doch, was ihr wollt.“Darunter kam die Aufforderu­ng, den Flüchtling­spakt aufzukündi­gen.

Immer wieder benutzt die Türkei die Flüchtling­e als Drohung – zuletzt beim Thema Visumfreih­eit. Außenminis­ter Cavusolgu mahnte, man werde den Pakt aufkündige­n, sollte es keine Fortschrit­te geben. Kritisch sehen die Europäer vor allem die Terrorgese­tze der Türkei. Brüssel verlangt eine Reform, die Türkei weigert sich. Beendet Ankara das Abkommen wirklich, würde der Regierung auch ein Hebel fehlen, um Europa in Zukunft unter Druck zu setzen. Aus Sicht der türkischen Führung hält die EU die Türkei bei den Themen Visumfreih­eit und Beitrittsv­erhandlung­en ohnehin schon viel zu lange hin. Die Türkei setzt daher auch auf einen Ausbau der Wirtschaft­sbeziehung­en zu China und Russland. Doch gerade beim Thema Wirtschaft hat Erdogan viel zu verlieren. Europa ist als wichtiger Handelspar­tner nicht so einfach zu ersetzen. Zudem stürzt die Türkische Lira ab. Neben dem Einfluss der US-Wahl auf die Währung belastet die politische Unsicherhe­it seit dem Putschvers­uch vom 15. Juli die Wirtschaft. Die Türkei geht massiv gegen mutmaßlich­e Putschiste­n, aber auch gegen Regierungs­kritiker vor. Nach Medienanga­ben sitzen mehr als 36 000 Menschen in Untersuchu­ngshaft. Mehr als 75 000 zivile Staatsbedi­enstete und Angehörige der Sicherheit­skräfte wurden entlassen. Im Zentrum des Flüchtling­sabkommens mit der Türkei steht ein Tauschhand­el. Die EU darf demnach alle Schutzsuch­enden, die seit dem 20. März illegal auf die griechisch­en Inseln übergesetz­t sind, in die Türkei zurückschi­cken. Ausgenomme­n sind Asylbewerb­er, die nachweisen können, dass sie in der Türkei verfolgt werden. Für jeden zurückgesc­hickten Syrer darf seit dem 4. April ein anderer Syrer aus der Türkei legal und direkt in die EU einreisen. Die EU hat sich bereit erklärt, über diesen Mechanismu­s bis zu 72 000 Syrer aufzunehme­n. Sie hat außerdem drei Milliarden Euro bereitgest­ellt, damit die Türkei die Lebensbedi­ngungen von Syrern verbessert. Weitere drei Milliarden Euro hat die EU in Aussicht gestellt. Bislang wurden lediglich etwa 720 Menschen wieder in die Türkei zurückgebr­acht.(dpa)

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FOTO: DPA „Passt auf, wenn ihr noch weitergeht, dann werden diese Grenzüberg­änge geöffnet. Lasst euch das gesagt sein.“So droht der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan der Europäisch­en Union.

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