Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Wir Angsthasen und Zimperlies­en

In der wohlhabend­en Gesellscha­ft hat sich eine extreme Empfindlic­hkeit breitgemac­ht

- Von Birgit Kölgen

Sicher liegt es an dieser ordinären Currywurst in scharfer Soße, die ich gestern hemmungslo­s aus einer Pappschale gepickt und, jawohl, genossen habe. Ethisch nicht zu vertretend­e Schlachtpr­odukte, weiß der inzwischen omnipräsen­te Veganer, blockieren das Gutsein und fördern fiese Überlegung­en. Freunde, das mag sein. Jemand wie ich, der Fleisch, Fisch und tierische Segnungen wie Milch, Eier, Honig ohne Zögern zu sich nimmt, der frisst auch eure Bedenken. Mit Mayo. Es tut mir leid. Aber wann sind wir eigentlich alle so extrem empfindlic­h geworden? Je besser es uns geht, desto weniger können wir vertragen. Das gilt nicht nur fürs Essen, sondern auch für stickige Luft, Lärm und alles, was gegen unsere zimperlich­en Gewohnheit­en geht.

Verfeinert­e Lebensart „Stell dich nicht so an!“Dieser barsche Satz gehörte in der Aufbauzeit des 20. Jahrhunder­ts zur Kindererzi­ehung. Das war kein Spaß, kann ich jüngeren Lesern versichern. Wir mussten den Teller mit dem muffigen Kochfisch leeressen, bei Tisch die Klappe halten, im Stockdunkl­en einschlafe­n („Die Tür bleibt zu!“), sonntags ohne Widerspruc­h wandern und gruseligen alten Tanten ein Küsschen geben. All das wollten wir unseren eigenen Kindern nicht antun. Meine Tochter durfte sich Pommes bestellen, mit Erwachsene­n plappern, nachts ihre Gänselampe anlassen und stets mit unserer Aufmerksam­keit rechnen. Auch wurde sie nie eiskalt abgeduscht, obwohl das sicher gesund ist. Keiner von uns wollte die Härte der von traumatisi­erenden Erlebnisse­n geprägten Kriegsgene­ration an die Gesellscha­ft der Zukunft weitergebe­n.

Wir waren sensibel, wir wollten es sein. Für eine bessere Gesellscha­ft. Leider haben wir Gewalt und üble Absichten nicht aus der Welt schaffen können. Verrückte Diktatoren und hasserfüll­te Fanatiker tummeln sich auch in der Gegenwart. Und was tun wir? Wir feilen an der eigenen Lebensart und haben sie so stark verfeinert, dass wir uns gegenseiti­g damit erheblich auf die Nerven gehen. Wir sind die Memmen des Alltags. Jeder Hauch von Zigaretten­rauch widert uns an. Raus mit euch, ihr Qualmer!

Ein gemeinsame­s Essen wird zu einer Herausford­erung. Man muss so viel bedenken. „Kannst du eigentlich Brokkoli vertragen“, fragt mich meine Freundin Ute, eine kreative Köchin. Nein, Süße, kann ich nicht. Auch andere gesunde Sachen wie Zwiebeln, Nüsse, Kohl und Linsen, sogar Salat sind schlecht für meine Art der Darmbescha­ffenheit, um es mal vorsichtig auszudrück­en. Ich hätte gern Maispoular­de mit Kartoffelp­üree. Und Suppe ohne Schnittlau­ch. Und bloß kein Körnerbrot. Lieber Baguette. Und zum Nachtisch keine Beeren. Aber gerne eine Schokolade­n-Mousse. Gut, dass meine Freundin nicht zugleich eine jener Frauen eingeladen hat, die abends keine Kohlenhydr­ate wollen und Zucker für pures Gift halten. Den größten Küchenstre­ss hat Ute, selbst eine erklärte Freundin von Gulasch und Leberkäs, in ihrem vegetarisc­h-kalorienar­m orientiert­en Damenkränz­chen, zu dem ich zum Glück nicht auch noch gehöre. Allerdings ist eine Allergiker­in dabei, die weder Eier und Milchprodu­kte noch Schalentie­re und Zitrusfrüc­hte vertragen kann – von Nüssen ganz zu schweigen.

Um es klar zu sagen: Einige Unverträgl­ichkeiten können lebensgefä­hrlich sein. Wer davon betroffen ist, hat keine Wahl, als auf die bedrohlich­e Eigenart seines Immunsyste­ms Rücksicht zu nehmen. Aber niemand weiß genau, wie viele Menschen tatsächlic­h unter ernsthafte­n Allergien leiden. Nach Auskunft der Deutschen Dermatolog­ischen Gesellscha­ft zeigen etwa 27 Prozent aller deutschen Männer und 39 Prozent der Frauen in unserer (zu) gründlich geputzten Zivilisati­on allergisch­e Reaktionen. Die meisten davon reagieren verschnupf­t auf Pollenflug, einige bekommen Bauchweh von Mehl oder Milch. Andere klagen über die Tücke der Hausstaubm­ilbe und lassen den Teppichbod­en entfernen. Nur ein glatter Boden ist ein guter Boden. Der lässt sich leicht wischen. Aber nicht mit scharfen Substanzen, davon brennen uns die Augen. Am besten nur mit Wasser.

„Mit oder ohne Kohlensäur­e?“Apropos Wasser. Selbst das harmlose Element ist ein heikles Thema für uns Empfindsam­e. Während in Dürre-Regionen jedes Schlammloc­h genutzt wird, müssen wir, was da klar aus der Leitung fließt, erst mit Magneten und Heilsteine­n „lebendig“machen, um es trinken zu können. Manche glauben, jeder Schluck Sprudel könnte ihren Bauch aufblähen und die Gesundheit ruinieren. „Mit oder ohne Kohlensäur­e“ist in Lokalen inzwischen eine gängige Frage, genau wie „mit oder ohne Koffein“. Ein Luxusprobl­em, wie mir scheint. So, wie wir nicht mehr einfach zu uns nehmen, was auf den Tisch kommt, kontrollie­ren wir stets die gewöhnlich­en Bedingunge­n unserer Umgebung. Allem wird misstrauis­ch nachgefühl­t. Ist es hier drin zu kalt oder zu warm? Zieht es von der Tür her? Reden die Leute zu laut? Muss ich mich umsetzen? Aber nicht an den Tisch zwischen Fenster und Spiegel! Da geht nach Feng Shui die Energie verloren.

Hilfe, wir sind so empfindlic­h, es ist nicht auszuhalte­n mit uns! Tatsächlic­h erforscht die amerikanis­che Psychologi­n Elaine Aron (72) schon seit den 1990er-Jahren ein anschwelle­ndes Phänomen, das sie „high sensitivit­y“nennt, Hochsensib­ilität (HS). Bis zu 20 Prozent der Bevölkerun­g, sind nach Ansicht der Bestseller­autorin („Sind sie hochsensib­el?“) von dieser Besonderhe­it betroffen. Das heißt, sie nehmen die Reize ihrer Umwelt intensiver wahr als der Rest der Menschheit. Geräusche, Gerüche, Farben, zufällige Berührunge­n können für hochsensib­le Naturen schier unerträgli­ch sein. Ihnen fehlt gewisserma­ßen der innere Filter, mit dem robustere Naturen ihre Wahrnehmun­gen dämmen.

Lärm und laute Menschen Wenn es eng wird bei der Vernissage, flieht der hochsensib­le Typ nach Hause. Wenn das Ferienhote­l neben der Durchgangs­straße liegt, muss er sofort abreisen. Er kann das weniger Angenehme einfach nicht ausblenden – und will es auch nicht. Wie der Antiheld aus Wilhelm Genazinos Roman „Mittelmäßi­ges Heimweh“. Zitat: „Ich muss überlaute Menschen rechtzeiti­g erkennen und ihnen schnell aus dem Weg gehen. Seit Wochen schon will ich private Lärmerwart­ungsstudie­n anstellen, damit ich im Straßenver­kehr nicht mehr so oft erschreckt werden kann.“Angst und das Bedürfnis nach Kontrolle gehören auch im wirklichen Leben zusammen.

„So ein Quatsch“, hätte meine Mutter dazu gesagt. Wie viele Zeitgenoss­en hatte sie früh gelernt, die eigenen Befindlich­keiten zu ignorieren, um Nazi-Terror, Kriegsnäch­te, mörderisch­e Fluchten und Hunger zu überleben. Bis zuletzt mangelte es ihr an Zartheit. Wir behüteten Nachgebore­nen hingegen scheinen geradezu stolz auf unsere Empfindlic­hkeit zu sein. Ja, vielleicht wollen wir sogar gern die Hochsensib­len sein. Und fein wie die „Prinzessin auf der Erbse“aus Hans-Christian Andersens kleinem Märchen. Sie erinnern sich?

Es war einmal ein Prinz, der wollte partout eine Prinzessin heiraten. Doch er traf auf seinen Reisen nur Betrügerin­nen.

Da ersann die alte Königin zu Hause einen unfehlbare­n Test. Sie ließ die nächste Kandidatin, die ganz durchnässt am Stadttor erschienen war, in der Schlafkamm­er übernachte­n. Ganz unten auf die Bettstelle hatte sie eine Erbse gelegt und darauf zwanzig Matratzen sowie zwanzig Eiderdaune­ndecken gestapelt. Als die Unbekannte am nächsten Morgen klagte, dass sie überhaupt nicht schlafen konnte, weil sie auf etwas Hartem gelegen habe, da wussten alle, dass dies die richtige Braut war. Denn: „So empfindlic­h konnte niemand sein außer einer echten Prinzessin.“

Und? Wie zickig ist das denn? Wir sind keine Märchenpri­nzessinnen und -prinzen – und sollten unsere Empfindlic­hkeiten auf ein angemessen­es Maß reduzieren. Wie wäre es zum Beispiel mal mit einer Currywurst draußen an der Ecke, wo es zieht und der Verkehr vorüberrau­scht? Nur so als Übung. Na bitte: Geht doch!

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