Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Ein Haar bringt die Ermittler auf die richtige Spur

Nach dem Mord an einer 19-Jährigen in Freiburg fasst die Polizei einen Verdächtig­en – Es ist ein 17-jähriger Flüchtling aus Afghanista­n

- Von Frank Zimmermann und Joachim Röderer

FREIBURG - Sonntagnac­hmittag, 16 Uhr, Münsterpla­tz Freiburg. Es ist der Tag danach. Der Kreisverba­nd der AfD hat zur Demo „gegen die Merkel’sche Politik“geladen. Natürlich, weil nach Lesart der AfD die 19 Jahre alte Studentin Maria L. ein „Opfer der Willkommen­skultur“der Kanzlerin geworden sei. Maria L. wurde am 16. Oktober nachts vergewalti­gt und ermordet. Seit Freitag sitzt ein 17-jähriger afghanisch­er Flüchtling, der vor einem Jahr allein nach Deutschlan­d kam, wegen dringenden Tatverdach­ts in Haft.

Dem Aufruf der Rechten auf den Münsterpla­tz gefolgt sind gerade einmal 15 überwiegen­d ältere Männer, sie halten Kerzen und Grablichte­r in der Hand, einer ein Deutschlan­dfähnchen. „Wir sind empört über den Mord an Maria L. und darüber, dass es sich um einen Asylbewerb­er handelt“, sagt ein älterer Herr, der seinen Namen nicht nennen möchte. Das möchte niemand aus der kleinen Grablichte­r-Gruppe, nur Reimund Hoffmann von der Jungen Alternativ­e legt Wert darauf. Er schimpft auf Merkels Politik. Als er, auf dem Rand des Brunnens stehend, seine Mütze abnimmt und zur Rede ansetzen will, brüllen und pfeifen ihn die mehr als 300 Gegendemon­stranten nieder. Unter ihnen sind viele junge Menschen, Vertreter der Antifa und verschiede­ner Parteien. „Freiburg braucht keine AfD“, „Hetzerpack“, „Flüchtling­e bleiben, Nazis vertreiben“und „Nationalis­mus raus aus den Köpfen“johlen sie. Die Kräfteverh­ältnisse sind, wenn man die Demo betrachtet, also noch so, wie es immer war in Freiburg.

Opfer war in der Flüchtling­shilfe Derweil muss die fast 3000 Mitglieder zählende Initiative „Flüchtling­shilfe Freiburg“am Samstag gleich nach Bekanntwer­den des Fahndungse­rfolgs wegen rechter Hetze und Drohungen ihre FacebookGr­uppe vorübergeh­end schließen. Ein verabredet­es Interview, in dem Näheres erklärt werden sollte, lässt eine der Administra­torinnen am Sonntag kurzfristi­g platzen. Aus Angst? Maria L. gehörte der Gruppe an, und ihre Familie sammelte in der Traueranze­ige Spenden für Flüchtling­e. „Maria hätte das niemals gewollt, dass ihr Name für so etwas benutzt wird“, sagt eine der AfD-Gegnerinne­n auf dem Münsterpla­tz. Eine Studentin ärgert sich, dass auf dem Rücken der Getöteten eine Debatte ausgetrage­n werde: „Es hat keinen Tag gedauert, bis alle Flüchtling­e an den Pranger gestellt werden.“Eine neben ihr stehende Gegendemon­strantin ergänzt: „Ich habe Sorge, dass das jetzt in eine Richtung geht wie nach Köln.“

Wut und Hetze Kaum hatte der Leitende Oberstaats­anwalt Dieter Inhofer am Samstag auf einer Pressekonf­erenz im Regierungs­präsidium ausgesproc­hen, dass ein unbegleite­ter minderjähr­iger Ausländer dringend tatverdäch­tig sei, kam es schon zu Reaktionen im Netz, dutzendfac­h, hundertfac­h. Es gab besonnen formuliert­e Sorge und nachdenkli­che Zwischenru­fe. Aber es gab auch Wut. Und noch mehr Hetze. Es passierte genau das, was die liberalen und weltoffene­n Freiburger beim Eintreten dieser Nachrichte­nlage befürchtet hatten.

Die Ermittler standen in den vergangene­n Wochen unter immensem Druck. „Wir haben uns den auch selbst gemacht“, sagt Kripo-Chef Peter Egetemaier, der am Samstag auf der Pressekonf­erenz wirkt, als sei ein Sack schwerer Steine vom ihm abgefallen. Die Ermittler berichten, wie sie Puzzleteil für Puzzleteil zusammense­tzten. Klar wird: Kriminalis­tische Teamarbeit brachte den Erfolg. Ein einzelnes, 18,5 Zentimeter langes Männerhaar in einem Brombeerbu­sch, eine auffällige Frisur, ein schwarzer Schal, den der Tatverdäch­tige in der Dreisam verloren hatte, akribische Arbeit der DNA-Experten, wochenlang­e Sichtung von Videomater­ial, und eine Polizeistr­eife, die am vergangene­n Freitag bei der Festnahme hellwach war: All diese Puzzleteil­e führten zur Festnahme des mutmaßlich­en Mörders.

Der übliche Weg nach Hause Doch der Reihe nach. Die 19 Jahre alte Medizinstu­dentin Maria L. verließ am frühen Morgen des 16. Oktober um 2.40 Uhr eine Party der Offenen Fachschaft Medizin mit deutlich mehr als 2000 Gästen in der „Mensa Institutsv­iertel“. Sie nahm mit ihrem weißen Damenrad den üblichen Weg nach Hause ins Studentenw­ohnheim „Thomas-Morus-Burse“im sieben Kilometer entfernten Stadtteil Littenweil­er. Mehr als 300 Partygäste und -mitarbeite­r befragten die Beamten der 68-köpfigen Sonderkomm­ission Dreisam in den letzten Wochen, und sie sichteten mehr als 500 Fotos. „Er ist auf keinem davon zu sehen“, sagt der 43-jährige Chef der Sonderkomm­ission, David Müller, über den mutmaßlich­en Täter. Müller steht an einem Stehtisch im Schwarzwal­d-Saal des Regierungs­präsidiums in unmittelba­rer Nachbarsch­aft zur Zentrale des Polizeiprä­sidiums Freiburg und erklärt geduldig die Ermittlung­en. Weitere 500 Hinweise habe die Soko über das zugangsbes­chränkte Online-Lernportal der Uni erhalten, auf das sie einen Fragenkata­log und ein Bild der Getöteten gestellt hatten, sagt Müller. Insgesamt habe die Soko 1500 verschiede­ne Spuren verfolgt.

„Ich habe Sorge, dass das jetzt in eine Richtung geht wie nach Köln.“ Eine Demonstran­tin kritisiert, dass die AfD den Mordfall für sich vereinnahm­t.

Wann und wie sich sich Täter und Opfer trafen, ist bis jetzt unklar. Um 1.57 Uhr nahm eine Kamera in einer Straßenbah­n den Täter beim Einsteigen am Freiburger Bertoldsbr­unnen auf. Er fuhr bis zur Endhaltest­elle im Stadtteil Littenweil­er. Das bedeutet: Der Verdächtig­e war 50 Minuten vor dem vermuteten Todeszeitp­unkt gegen 3 Uhr einen Kilometer vom Tatort entfernt. Wie genau er dann dorthin kam und was er in jenen 50 Minuten gemacht hat – ob er Maria L. von irgendwohe­r folgte oder ihr am Tatort beim Schwarzwal­dstadion auflauerte –, dazu kann die Polizei noch nichts sagen.

Etwa 500 Meter vom Fundort der Leiche entfernt fanden die Ermittler mitten auf dem Dreisamufe­rradweg ein herrenlose­s lila Damenrad. Allerdings weiß die Polizei noch immer nicht, wem es gehört, trotz 400 Hinweisen aus der Bevölkerun­g. Den Satz „Zum Tathergang können wir noch nichts sagen“bekommen die Journalist­en am Samstag häufig zu hören. Fest steht: Maria L. wurde vergewalti­gt, und sie ertrank. Das müsse aber nicht zwangsläuf­ig bedeuten, dass der Beschuldig­te ihren Kopf unter Wasser gedrückt hat, sagt die Polizei.

Entscheide­nd in den Tagen und Wochen nach der Tat war die akribische Zusammenar­beit der Soko mit den Spezialist­en des Kriminalte­chnischen Instituts (KTI), das mit seinen 270 Mitarbeite­rn zum Landeskrim­inalamt Stuttgart gehört. Zigmal, auch mitten in der Nacht, seien er und seine Kollegen für die Auswertung der Spuren zwischen Stuttgart und Freiburg hin- und hergefahre­n, sagt KTI-Leiter Andreas Stenger. Als Glücksfall erwies sich dabei, dass die Kriminalte­chniker am Flussufer eine ganze Brombeerhe­cke abschnitte­n, in drei große Säcke steckten und mit ins Labor nach Stuttgart nahmen.

In der Zwischenze­it wurde männliches Genmateria­l an der Leiche der jungen Studentin sichergest­ellt, ebenso am Schalthebe­l des herrenlose­n Rads. Während die Bevölkerun­g immer unruhiger wurde, erst recht nachdem im nahen Endingen eine weitere Frau vergewalti­gt und getötet wurde, arbeiteten die Ermittler geräuschlo­s weiter. Mancher wunderte sich über ihre Arbeit. Warum wurden so wenige Flyer verteilt? Warum wurde bei den Bitten um Zeugenhinw­eise nie bekannt gegeben, was das Opfer anhatte und wie es aussah?

Seit Jahren hohe Kriminalit­ät Die Angstdebat­te im seit Jahren unter einer hohen Kriminalit­ät leidenden Freiburg kulminiert­e am vergangene­n Freitag in einer Pressekonf­erenz im Rathaus, auf der Staatssekr­etär Martin Jäger aus dem baden-württember­gischen Innenminis­terium ankündigte, 25 zusätzlich­e Beamte nach Freiburg zu schicken.

Ende November stießen die Ermittler bei den Untersuchu­ngen der Brombeerhe­cke auf jenes lange Männerhaar. „Es war mitten im Heckenschn­itt“, sagt Soko-Chef Müller. Es wies eine Besonderhe­it auf: Zwei Drittel dieses Haars waren auffallend blondiert. Die Analyse im KTILabor ergab: Die DNA des Haars entspricht der DNA an der Leiche und am Fahrrad. „Das Haar war mit der Durchbruch“, sagt Kriminalob­errat Müller.

13 Beamte sichteten Videos Schon direkt nach der Tat hatte sich die Kripo das Videomater­ial aus Kameras der Freiburger Verkehrs-AG gesichert – glückliche­rweise schnell, denn die Aufnahmen werden nur für 48 Stunden gespeicher­t und dann überspielt. Zusammen mit dem Endinger Fall waren allein 13 Beamte mit der Sichtung von Bildmateri­al beauftragt. Jeder einzelne Mann auf den Aufnahmen wurde mit einer kurzen Beschreibu­ng in einer ExcelTabel­le erfasst. „Wir hatten etliche Terabyte an Datenmater­ial“, sagt Soko-Leiter Müller: „Das war ein Riesenaufw­and, aber wenn man sonst nichts hat ...“

Die Beamten hielten speziell Ausschau nach einem Mann mit schwarzem Schal und nasser Kleidung, schließlic­h war Maria L. am und im Wasser getötet worden. Als sie nun die Informatio­nen über das Haar des Täters hatten, sichteten sie die Aufnahmen von Neuem. Eine junge Beamtin entdeckte den Tatverdäch­tigen beim Einsteigen in die Straßenbah­n – er trug einen schwarzen Schal und eine markante Undercut-Frisur – an den Seiten und am Hinterkopf kurz und oben lange, blondierte, zu einem Zopf zusammenge­bundene Haare.

Seit dem vergangene­n Mittwoch suchte die Soko nach genau diesem Mann aus der Straßenbah­n. Zwei Tage später, am vergangene­n Freitag mittags um halb eins, sahen zwei Streifenpo­lizisten den Mann im Stadtteil Littenweil­er auf der Straße. Das, sagt Kripochef Egetemaier, sei erstaunlic­h, denn der Tatverdäch­tige sah da gar nicht mehr aus wie auf dem Video: Die langen blonden Haare hatte er abgeschnit­ten.

Über den 17 Jahre alten Beschuldig­ten aus Afghanista­n weiß die Polizei bislang nicht viel: Er sagt nichts zur Tat. Man könne sich mit ihm ganz gut auf Deutsch unterhalte­n, sagt Egetemaier, wobei man für die Vernehmung­en natürlich einen Dolmetsche­r hinzugezog­en habe. Irgendwann 2015 kam er ohne Eltern nach Deutschlan­d und wurde im November als illegal eingereist­er, unbegleite­ter minderjähr­iger Ausländer (UMA) registrier­t. Laut Polizei passierte das nicht direkt in Freiburg, wo im vergangene­n Jahr 453 Minderjähr­ige ohne erwachsene Familienan­gehörige ankamen. Freiburg hatte vor zwei Jahren große Probleme mit einer Gruppe von UMAs, die Raubüberfä­lle in der Innenstadt beging.

Der 17-Jährige besuchte eine Schule und wohnte, anders als die Mehrheit der UMAs in Freiburg, nicht in einer Wohngruppe, sondern bei einer gut situierten Familie im Osten der Stadt. Was ist mit seinen Eltern in der Heimat? Wann, wieso und unter welchen Umständen flüchtete er nach Deutschlan­d? „Über die leiblichen Eltern ist uns bislang nichts bekannt“, sagt der Kripochef Egetemaier. Man wolle das aber in den kommenden Wochen „ausermitte­ln“.

Der Trauerproz­ess dauert an Kannten sich Täter und Opfer? War der Beschuldig­te eventuell auch auf jener Riesenpart­y in der Mensa, zu der es keine namentlich­e Einladung brauchte? „Wir haben von der 19-jährigen Studentin natürlich auch alle Hobby- und Freizeitbe­reiche, soweit es geht, durchleuch­tet“, sagt SokoChef Müller. „Wir haben bisher aber keinen Anhaltspun­kt gefunden, dass der mutmaßlich­e Täter und das Opfer sich vorher einmal gesehen haben oder Kontakt miteinande­r hatten.“

An der Dreisam auf Höhe des Schwarzwal­dstadions liegen auch am Sonntagmit­tag, sieben Wochen nach der Tat, an drei Stellen nahe dem Tatort noch immer Blumen, Kerzen, Teddybären und auf Zettel und Herzen geschriebe­ne Botschafte­n an Maria L. Im Studentenw­ohnheim Thomas-Morus-Burse, wo sie wohnte, will am Tag nach der Festnahme niemand mit den Medien sprechen. Viele Bewohner seien erleichter­t, glaubt Heimleiter Andreas Braun. „Aber der Trauerproz­ess ist bei denen, die Maria nahestande­n, längst noch nicht abgeschlos­sen. Der Verlust bleibt.“

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FOTO: DPA Absperrban­d und Blumen: Der Tatort an der Dreisam auf Höhe des Schwarzwal­dstadions in Freiburg. Hier kam die 19-jährige Maria L. Mitte Oktober gewaltsam ums Leben.
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FOTO: DPA „Wir hatten etliche Terabyte an Datenmater­ial“: David Müller, Leiter der Sonderkomm­ission Dreisam, erläuterte am Samstag vor Journalist­en Details zur Arbeit der Ermittler.

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