Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Ein Haar bringt die Ermittler auf die richtige Spur
Nach dem Mord an einer 19-Jährigen in Freiburg fasst die Polizei einen Verdächtigen – Es ist ein 17-jähriger Flüchtling aus Afghanistan
FREIBURG - Sonntagnachmittag, 16 Uhr, Münsterplatz Freiburg. Es ist der Tag danach. Der Kreisverband der AfD hat zur Demo „gegen die Merkel’sche Politik“geladen. Natürlich, weil nach Lesart der AfD die 19 Jahre alte Studentin Maria L. ein „Opfer der Willkommenskultur“der Kanzlerin geworden sei. Maria L. wurde am 16. Oktober nachts vergewaltigt und ermordet. Seit Freitag sitzt ein 17-jähriger afghanischer Flüchtling, der vor einem Jahr allein nach Deutschland kam, wegen dringenden Tatverdachts in Haft.
Dem Aufruf der Rechten auf den Münsterplatz gefolgt sind gerade einmal 15 überwiegend ältere Männer, sie halten Kerzen und Grablichter in der Hand, einer ein Deutschlandfähnchen. „Wir sind empört über den Mord an Maria L. und darüber, dass es sich um einen Asylbewerber handelt“, sagt ein älterer Herr, der seinen Namen nicht nennen möchte. Das möchte niemand aus der kleinen Grablichter-Gruppe, nur Reimund Hoffmann von der Jungen Alternative legt Wert darauf. Er schimpft auf Merkels Politik. Als er, auf dem Rand des Brunnens stehend, seine Mütze abnimmt und zur Rede ansetzen will, brüllen und pfeifen ihn die mehr als 300 Gegendemonstranten nieder. Unter ihnen sind viele junge Menschen, Vertreter der Antifa und verschiedener Parteien. „Freiburg braucht keine AfD“, „Hetzerpack“, „Flüchtlinge bleiben, Nazis vertreiben“und „Nationalismus raus aus den Köpfen“johlen sie. Die Kräfteverhältnisse sind, wenn man die Demo betrachtet, also noch so, wie es immer war in Freiburg.
Opfer war in der Flüchtlingshilfe Derweil muss die fast 3000 Mitglieder zählende Initiative „Flüchtlingshilfe Freiburg“am Samstag gleich nach Bekanntwerden des Fahndungserfolgs wegen rechter Hetze und Drohungen ihre FacebookGruppe vorübergehend schließen. Ein verabredetes Interview, in dem Näheres erklärt werden sollte, lässt eine der Administratorinnen am Sonntag kurzfristig platzen. Aus Angst? Maria L. gehörte der Gruppe an, und ihre Familie sammelte in der Traueranzeige Spenden für Flüchtlinge. „Maria hätte das niemals gewollt, dass ihr Name für so etwas benutzt wird“, sagt eine der AfD-Gegnerinnen auf dem Münsterplatz. Eine Studentin ärgert sich, dass auf dem Rücken der Getöteten eine Debatte ausgetragen werde: „Es hat keinen Tag gedauert, bis alle Flüchtlinge an den Pranger gestellt werden.“Eine neben ihr stehende Gegendemonstrantin ergänzt: „Ich habe Sorge, dass das jetzt in eine Richtung geht wie nach Köln.“
Wut und Hetze Kaum hatte der Leitende Oberstaatsanwalt Dieter Inhofer am Samstag auf einer Pressekonferenz im Regierungspräsidium ausgesprochen, dass ein unbegleiteter minderjähriger Ausländer dringend tatverdächtig sei, kam es schon zu Reaktionen im Netz, dutzendfach, hundertfach. Es gab besonnen formulierte Sorge und nachdenkliche Zwischenrufe. Aber es gab auch Wut. Und noch mehr Hetze. Es passierte genau das, was die liberalen und weltoffenen Freiburger beim Eintreten dieser Nachrichtenlage befürchtet hatten.
Die Ermittler standen in den vergangenen Wochen unter immensem Druck. „Wir haben uns den auch selbst gemacht“, sagt Kripo-Chef Peter Egetemaier, der am Samstag auf der Pressekonferenz wirkt, als sei ein Sack schwerer Steine vom ihm abgefallen. Die Ermittler berichten, wie sie Puzzleteil für Puzzleteil zusammensetzten. Klar wird: Kriminalistische Teamarbeit brachte den Erfolg. Ein einzelnes, 18,5 Zentimeter langes Männerhaar in einem Brombeerbusch, eine auffällige Frisur, ein schwarzer Schal, den der Tatverdächtige in der Dreisam verloren hatte, akribische Arbeit der DNA-Experten, wochenlange Sichtung von Videomaterial, und eine Polizeistreife, die am vergangenen Freitag bei der Festnahme hellwach war: All diese Puzzleteile führten zur Festnahme des mutmaßlichen Mörders.
Der übliche Weg nach Hause Doch der Reihe nach. Die 19 Jahre alte Medizinstudentin Maria L. verließ am frühen Morgen des 16. Oktober um 2.40 Uhr eine Party der Offenen Fachschaft Medizin mit deutlich mehr als 2000 Gästen in der „Mensa Institutsviertel“. Sie nahm mit ihrem weißen Damenrad den üblichen Weg nach Hause ins Studentenwohnheim „Thomas-Morus-Burse“im sieben Kilometer entfernten Stadtteil Littenweiler. Mehr als 300 Partygäste und -mitarbeiter befragten die Beamten der 68-köpfigen Sonderkommission Dreisam in den letzten Wochen, und sie sichteten mehr als 500 Fotos. „Er ist auf keinem davon zu sehen“, sagt der 43-jährige Chef der Sonderkommission, David Müller, über den mutmaßlichen Täter. Müller steht an einem Stehtisch im Schwarzwald-Saal des Regierungspräsidiums in unmittelbarer Nachbarschaft zur Zentrale des Polizeipräsidiums Freiburg und erklärt geduldig die Ermittlungen. Weitere 500 Hinweise habe die Soko über das zugangsbeschränkte Online-Lernportal der Uni erhalten, auf das sie einen Fragenkatalog und ein Bild der Getöteten gestellt hatten, sagt Müller. Insgesamt habe die Soko 1500 verschiedene Spuren verfolgt.
„Ich habe Sorge, dass das jetzt in eine Richtung geht wie nach Köln.“ Eine Demonstrantin kritisiert, dass die AfD den Mordfall für sich vereinnahmt.
Wann und wie sich sich Täter und Opfer trafen, ist bis jetzt unklar. Um 1.57 Uhr nahm eine Kamera in einer Straßenbahn den Täter beim Einsteigen am Freiburger Bertoldsbrunnen auf. Er fuhr bis zur Endhaltestelle im Stadtteil Littenweiler. Das bedeutet: Der Verdächtige war 50 Minuten vor dem vermuteten Todeszeitpunkt gegen 3 Uhr einen Kilometer vom Tatort entfernt. Wie genau er dann dorthin kam und was er in jenen 50 Minuten gemacht hat – ob er Maria L. von irgendwoher folgte oder ihr am Tatort beim Schwarzwaldstadion auflauerte –, dazu kann die Polizei noch nichts sagen.
Etwa 500 Meter vom Fundort der Leiche entfernt fanden die Ermittler mitten auf dem Dreisamuferradweg ein herrenloses lila Damenrad. Allerdings weiß die Polizei noch immer nicht, wem es gehört, trotz 400 Hinweisen aus der Bevölkerung. Den Satz „Zum Tathergang können wir noch nichts sagen“bekommen die Journalisten am Samstag häufig zu hören. Fest steht: Maria L. wurde vergewaltigt, und sie ertrank. Das müsse aber nicht zwangsläufig bedeuten, dass der Beschuldigte ihren Kopf unter Wasser gedrückt hat, sagt die Polizei.
Entscheidend in den Tagen und Wochen nach der Tat war die akribische Zusammenarbeit der Soko mit den Spezialisten des Kriminaltechnischen Instituts (KTI), das mit seinen 270 Mitarbeitern zum Landeskriminalamt Stuttgart gehört. Zigmal, auch mitten in der Nacht, seien er und seine Kollegen für die Auswertung der Spuren zwischen Stuttgart und Freiburg hin- und hergefahren, sagt KTI-Leiter Andreas Stenger. Als Glücksfall erwies sich dabei, dass die Kriminaltechniker am Flussufer eine ganze Brombeerhecke abschnitten, in drei große Säcke steckten und mit ins Labor nach Stuttgart nahmen.
In der Zwischenzeit wurde männliches Genmaterial an der Leiche der jungen Studentin sichergestellt, ebenso am Schalthebel des herrenlosen Rads. Während die Bevölkerung immer unruhiger wurde, erst recht nachdem im nahen Endingen eine weitere Frau vergewaltigt und getötet wurde, arbeiteten die Ermittler geräuschlos weiter. Mancher wunderte sich über ihre Arbeit. Warum wurden so wenige Flyer verteilt? Warum wurde bei den Bitten um Zeugenhinweise nie bekannt gegeben, was das Opfer anhatte und wie es aussah?
Seit Jahren hohe Kriminalität Die Angstdebatte im seit Jahren unter einer hohen Kriminalität leidenden Freiburg kulminierte am vergangenen Freitag in einer Pressekonferenz im Rathaus, auf der Staatssekretär Martin Jäger aus dem baden-württembergischen Innenministerium ankündigte, 25 zusätzliche Beamte nach Freiburg zu schicken.
Ende November stießen die Ermittler bei den Untersuchungen der Brombeerhecke auf jenes lange Männerhaar. „Es war mitten im Heckenschnitt“, sagt Soko-Chef Müller. Es wies eine Besonderheit auf: Zwei Drittel dieses Haars waren auffallend blondiert. Die Analyse im KTILabor ergab: Die DNA des Haars entspricht der DNA an der Leiche und am Fahrrad. „Das Haar war mit der Durchbruch“, sagt Kriminaloberrat Müller.
13 Beamte sichteten Videos Schon direkt nach der Tat hatte sich die Kripo das Videomaterial aus Kameras der Freiburger Verkehrs-AG gesichert – glücklicherweise schnell, denn die Aufnahmen werden nur für 48 Stunden gespeichert und dann überspielt. Zusammen mit dem Endinger Fall waren allein 13 Beamte mit der Sichtung von Bildmaterial beauftragt. Jeder einzelne Mann auf den Aufnahmen wurde mit einer kurzen Beschreibung in einer ExcelTabelle erfasst. „Wir hatten etliche Terabyte an Datenmaterial“, sagt Soko-Leiter Müller: „Das war ein Riesenaufwand, aber wenn man sonst nichts hat ...“
Die Beamten hielten speziell Ausschau nach einem Mann mit schwarzem Schal und nasser Kleidung, schließlich war Maria L. am und im Wasser getötet worden. Als sie nun die Informationen über das Haar des Täters hatten, sichteten sie die Aufnahmen von Neuem. Eine junge Beamtin entdeckte den Tatverdächtigen beim Einsteigen in die Straßenbahn – er trug einen schwarzen Schal und eine markante Undercut-Frisur – an den Seiten und am Hinterkopf kurz und oben lange, blondierte, zu einem Zopf zusammengebundene Haare.
Seit dem vergangenen Mittwoch suchte die Soko nach genau diesem Mann aus der Straßenbahn. Zwei Tage später, am vergangenen Freitag mittags um halb eins, sahen zwei Streifenpolizisten den Mann im Stadtteil Littenweiler auf der Straße. Das, sagt Kripochef Egetemaier, sei erstaunlich, denn der Tatverdächtige sah da gar nicht mehr aus wie auf dem Video: Die langen blonden Haare hatte er abgeschnitten.
Über den 17 Jahre alten Beschuldigten aus Afghanistan weiß die Polizei bislang nicht viel: Er sagt nichts zur Tat. Man könne sich mit ihm ganz gut auf Deutsch unterhalten, sagt Egetemaier, wobei man für die Vernehmungen natürlich einen Dolmetscher hinzugezogen habe. Irgendwann 2015 kam er ohne Eltern nach Deutschland und wurde im November als illegal eingereister, unbegleiteter minderjähriger Ausländer (UMA) registriert. Laut Polizei passierte das nicht direkt in Freiburg, wo im vergangenen Jahr 453 Minderjährige ohne erwachsene Familienangehörige ankamen. Freiburg hatte vor zwei Jahren große Probleme mit einer Gruppe von UMAs, die Raubüberfälle in der Innenstadt beging.
Der 17-Jährige besuchte eine Schule und wohnte, anders als die Mehrheit der UMAs in Freiburg, nicht in einer Wohngruppe, sondern bei einer gut situierten Familie im Osten der Stadt. Was ist mit seinen Eltern in der Heimat? Wann, wieso und unter welchen Umständen flüchtete er nach Deutschland? „Über die leiblichen Eltern ist uns bislang nichts bekannt“, sagt der Kripochef Egetemaier. Man wolle das aber in den kommenden Wochen „ausermitteln“.
Der Trauerprozess dauert an Kannten sich Täter und Opfer? War der Beschuldigte eventuell auch auf jener Riesenparty in der Mensa, zu der es keine namentliche Einladung brauchte? „Wir haben von der 19-jährigen Studentin natürlich auch alle Hobby- und Freizeitbereiche, soweit es geht, durchleuchtet“, sagt SokoChef Müller. „Wir haben bisher aber keinen Anhaltspunkt gefunden, dass der mutmaßliche Täter und das Opfer sich vorher einmal gesehen haben oder Kontakt miteinander hatten.“
An der Dreisam auf Höhe des Schwarzwaldstadions liegen auch am Sonntagmittag, sieben Wochen nach der Tat, an drei Stellen nahe dem Tatort noch immer Blumen, Kerzen, Teddybären und auf Zettel und Herzen geschriebene Botschaften an Maria L. Im Studentenwohnheim Thomas-Morus-Burse, wo sie wohnte, will am Tag nach der Festnahme niemand mit den Medien sprechen. Viele Bewohner seien erleichtert, glaubt Heimleiter Andreas Braun. „Aber der Trauerprozess ist bei denen, die Maria nahestanden, längst noch nicht abgeschlossen. Der Verlust bleibt.“