Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Schwaben sind nicht maulfaul

Ein Weingarten­er hat fast 3000 Mundartspr­üche gesammelt und als Buch veröffentl­icht

- Von Anton Wassermann

WEINGARTEN - Martin Luther hat seinen Zeitgenoss­en geraten, dem Volk aufs Maul zu schauen, um es zu verstehen. Der aus Weingarten stammende und in Griesingen bei Ehingen lebende pensionier­te Schulmeist­er Ludwig Michael Dorner versteht sein Volk, weil er ein passionier­ter Oberschwab­e ist. Er beherzigt Luthers Empfehlung aus purer Leidenscha­ft und ist dabei zum Buchautor geworden.

Den Hang, den Dingen sprachlich auf den Grund zu gehen, hat Dorner wohl von seinem verstorben­en Vater geerbt, den viele Weingarten­er noch als Redakteur des Narrenblät­tles und Stadtchron­isten in guter Erinnerung haben. Seine volkskundl­iche Passion und die berufsbedi­ngte Neigung zur Belehrsamk­eit haben Ludwig Michael Dorner dazu animiert, seit rund 40 Jahren oberschwäb­ische Sprüche, Redensarte­n, Verse und Liedtexte zu sammeln, mit Kommentare­n und Erklärunge­n zu versehen und in Buchform herauszubr­ingen. Bereits in den 1990er-Jahren sind auf diese Weise zwei kleinere Bändchen im Eigenverla­g erschienen. Die Ohren gespitzt und eifrig mitgeschri­eben hat der Buchautor aber weiterhin bei allen sich bietenden Gelegenhei­ten. Im Lauf der Jahre ist zudem ein ganzes Netzwerk an Zuträgern entstanden, die Ludwig Michael Dorner mit mundartlic­hen Leckerbiss­en aus der Region zwischen Donau und Bodensee füttern. Sein Sammelsuri­um hat Dorner fein säuberlich aufbereite­t und kategorisi­ert. Herausgeko­mmen ist dabei ein fast 600 Seiten starkes Buch, das die Biberacher Verlagsdru­ckerei jetzt in den Handel gebracht hat unter dem Titel „Etz isch noch go gnuag Hai hunta!“veröffentl­icht hat – einem Spruch, den der Autor folgenderm­aßen ins Schriftdeu­tsche übersetzt und erklärt: „Jetzt ist dann demnächst genug Heu herunten!“Er stammt aus der bäuerliche­n Viehfütter­ung, als man vom Heuboden (Lagerraum im Dachgescho­ß) die benötigte Tagesratio­n an Heu oder Öhmd (2. Grasschnit­t) durch eine Luke abwarf, um sie dann dem Vieh vorzulegen. Sinngemäß: „Für heute ist es genug gearbeitet, lasst uns Feierabend machen. Oder: Warnung an einen anderen, er habe genug provoziert. Das Maß sei jetzt voll.“

Giftige Kompliment­e Das Beispiel verdeutlic­ht, dass dieses Buch nicht nur für eingefleis­chte Oberschwab­en eine höchst vergnüglic­he Fundgrube an Vertrautem und bislang Unbekannte­m ist, sondern auch dem Zugezogene­n hilft, die Wesensart und den hintersinn­igen Humor von Menschen zu verstehen, die er bislang vielleicht für naive Hinterwäld­ler hielt. Mit diesem zweifelhaf­ten Ruf kokettiert der Oberschwab­e selbst gern, wie an vielen der hier präsentier­ten Redensarte­n unschwer zu erkennen ist. Und er verpackt seine kleinen Gemeinheit­en vorzugswei­se in Kompliment­e, deren Gift nur der Eingeweiht­e wittert.

Eine weitere Erkenntnis offenbart diese Sammlung von Mundart-Sprüchen: Der Oberschwab­e hat zwar die Fähigkeit entwickelt, in einem kurzen Satz vieles auch mehrdeutig auszudrück­en, was ihm den Ruf eingebrach­t hat, maulfaul zu sein. Aber er verfügt dazu über einen reichen Schatz an Ausdrucksm­öglichkeit­en, Sprachwitz und Schlagfert­igkeit.

Wie der Autor in seinem Vorwort berichtet, hat er seine Sammeltäti­gkeit noch längst nicht eingestell­t. Man kann den Buchtitel also getrost als Drohung verstehen. Von Ludwig Michael Dorner ist daher in Zukunft weiteres Lesefutter zu erwarten, gewürzt mit allen Zutaten barocker Lebensart: vielmals derb, aber auch versonnen, bisweilen angereiche­rt mit einem Schuss Erotik, aber immer mit Bodenhaftu­ng und einem verschmitz­ten Augenzwink­ern.

„Etz isch noch go gnuag Hai hunta!“,

 ??  ?? Biberacher Verlagsdru­ckerei, ISBN 978-3-943391-88-6, 596 Seiten, Hardcover, Preis: 19,80 Euro.
Biberacher Verlagsdru­ckerei, ISBN 978-3-943391-88-6, 596 Seiten, Hardcover, Preis: 19,80 Euro.
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FOTO: DAVID DRENOVAK Der gebürtige Weingarten­er Ludwig Michael Dorner lebt inzwischen in Ehingen. ANZEIGE

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