Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Verzweifeltes SOS aus einer zerstörten Stadt
Seit Beginn der Offensive haben mehr als 40 000 Menschen ihre Häuser im Osten der Stadt Aleppo verlassen
TUNIS (dpa) - So sieht eine Stadt vor dem Fall aus: Die Straßen sind menschenleer und übersät mit riesigen Kratern voller Regenwasser. Am Straßenrand liegen vereinzelt ausgebrannte Autos. Die mehrstöckigen braunen Gebäude sehen aus wie leere Gerippe. Aktivisten haben das Video bei einer kurzen Autofahrt durch das Innere der letzten Gebiete der Aufständischen im Osten Aleppos am Montag veröffentlicht. Es sieht ganz nach Ende aus.
Auch von früheren Durchhalteparolen der Bewohner ist nicht viel geblieben. Die pausenlosen Luftangriffe der syrischen und russischen Luftwaffe, das Artilleriefeuer, das „wie Regen“auf Aleppo niederprasselt, wie ein Aktivist sagt, all das nagt an den Menschen. „Dies ist unser letztes SOS“, schrieb ein Bewohner aus Ost-Aleppo am Montag in einem flehenden Ruf im Internet. „Ich hoffe, dass wir das hier überleben“, sagte ein anderer Bewohner in einer Sprachnachricht. Menschen seien den Berichten zufolge unter Trümmern gefangen, ohne dass ihnen geholfen werden könne, weil der Beschuss nicht abreiße.
Nach Angaben der Vereinten Nationen haben seit Beginn der Offensive mehr als 40 000 Menschen ihre Häuser im Osten der Stadt verlassen und befinden sich seitdem auf der Flucht. Die staatliche syrische Nachrichtenagentur Sana berichtete am Montag, allein seit Sonntag seien rund 13 000 Zivilisten in die von der Regierung kontrollierten Gebiete geflohen.
Seit mehr als fünf Monaten sind die Rebellengebiete im Osten Aleppos so gut wie von der Außenwelt abgeschnitten. Doch schon seit Beginn der Bürgerkrieges ist die Stadt ein Symbol für die Schlacht im gesamten Land und gilt als einer der am heftigsten umkämpften Orte. Von der prachtvollen früheren Handelsmetropole ist nicht mehr viel übrig. Die Stadt, deren Westen vom Regime und deren Osten lange Zeit von der Opposition kontrolliert wurde, ist sturmreif geschossen.
Syriens Machthaber Baschar alAssad versucht mit Methoden wie aus dem Mittelalter, die Stadt zurückzuerobern. Erst belagerte er die Gebiete der Aufständischen seit dem Sommer und hungerte sie aus, dann folgte eine massive Offensive, in deren Verlauf gezielt Infrastruktureinrichtungen wie Krankenhäuser zerstört wurden.
Ein Wendepunkt Der Fall Aleppos könnte ein Wendepunkt im syrischen Bürgerkrieg sein. Mit Aleppo könnte die syrische Armee die letzte Großstadt zurückerobern, in der sich noch eine nennenswerte Zahl von Aufständischen aufhält. Auf einer Nord-Süd-Achse von Aleppo über Homs bis Damaskus würde Assad dann wieder die wichtigsten Gebiete des Landes kontrollieren und könnte sich anschließend auf andere Fronten konzentrieren.
Die Opposition sagt offiziell zwar, dass sie – auch bei einem Fall von Aleppo – zu keinen Zugeständnissen bereit sei, aber die Verhandlungsbasis für Assad verbessert sich immens, hat er Aleppo erst einmal wieder unter seiner Kontrolle.
Trotzdem zeigt sich, wie sehr Assad auf die Hilfe seiner Verbündeten, vor allem Russlands und der libanesischen Hisbollah, angewiesen ist. Als sich alle Kräfte auf Aleppo konzentrierten und die syrische Armee in Palmyra nach der Vertreibung der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) allein operierte, gelang es den Dschihadisten am vergangenen Wochenende ohne größere Probleme, die Stadt wieder einzunehmen. Auch wenn diese Offensive nur von kurzer Dauer sein sollte, offenbart sie doch die Schwäche der syrischen Armee.
Ähnlich wie zuletzt mehrfach im Umland der Hauptstadt Damaskus könnte es der syrischen Armee gelingen, mit den Aufständischen einen Abzug auszuhandeln – zum Wohl der Zivilbevölkerung – und die Aufständischen in die ländliche Provinz Idlib abziehen zu lassen. Das würde die Fronten für Assad verkleinern. Ein Ende des Bürgerkrieges wäre aber auch das noch lange nicht.