Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Ein heißer Tee, ein offenes Ohr und Zeit

Seit der Vorweihnac­htszeit gibt es in Weingarten zwei „Orte des Zuhörens“in der Basilika und in Strobels Lädele

- Von Nicolai Kapitz

WEINGARTEN - Wohin können Menschen gehen, die viel zu erzählen haben, die etwas bedrückt, die einfach nur mit jemandem reden wollen – aber niemanden mehr haben? Seit der Adventszei­t gibt es in Weingarten die „Orte des Zuhörens“. Zweimal in der Woche – mittwochs in „Strobels Lädele“in der Karlstraße und freitags in der Basilika – haben Menschen hier ein offenes Ohr für jeden. Das Angebot wird auch rege genutzt.

An diesem Mittwoch ist nicht viel los auf dem Weingarten­er Wochenmark­t. Es pfeift ein eisiger Wind, bei Minusgrade­n stehen die Verkäufer dicht eingewicke­lt in Mäntel und Mützen hinter ihren Ständen und die Kunden eilen durch die kalten Straßen, auch vorbei an „Strobels Lädele“in der Karlstraße. Das Geschäft wird seit einigen Jahren von Iris Herzogenra­th betrieben und ist mehr als nur ein Laden für allerlei Weingarten­er Andenken, Blutritts-Devotional­ien und Antiquität­en. Das „Lädele“ist Treffpunkt für viele Menschen, eigentlich ist es während der Öffnungsze­iten – immer während der Marktzeit am Mittwoch – nie leer. Das trifft ganz besonders seit der Vorweihnac­htszeit zu. Denn seit November gibt es im Lädele einen „Ort des Zuhörens“.

Drin ist es warm, die Enge des ehemaligen Schreibwar­enladens wirkt gemütlich. An der Theke hält Iris Herzogenra­th das eine oder andere „Schwätzle“mit den Kunden, einige wollen gar nichts kaufen, sondern nur ein wenig reden. Im hinteren Teil des uralten Gebäudes – es ist mehr als 300 Jahre alt – stehen seit einigen Monaten ein Tisch und mehrere gemütliche Stühle. Für diejenigen, die mehr zu sagen haben, als beim Schwätzle an der Theke gesagt werden kann. Hier sitzt an diesem Mittwoch Carmen Schmidt und wartet auf Gäste.

Die 47-Jährige ist weder Seelsorger­in noch Psychologi­n – sie ist Zuhörerin. „Es kommen oft einsame Menschen hierher“, erzählt sie. „Viele sind schon etwas älter, einige haben eine Behinderun­g, manchmal ist die Ehefrau oder der Ehemann verstorben.“Für alle, die den Weg an den Tisch mit den Stühlen finden, hat Carmen Schmidt einen heißen Tee und ein offenes Ohr. „Ich mache das gerne“, sagt die Zuhörerin. „Es ist ein schönes Gefühl, Menschen helfen zu können.“

Gemeinsam mit 14 Kolleginne­n verbringt sie regelmäßig Zeit am „Ort des Zuhörens“, entweder im Lädele oder freitags in der Basilika. Die katholisch­e Gesamtkirc­hengemeind­e, die Caritas und die evangelisc­he Kirchengem­einde haben das Projekt gemeinsam auf die Beine gestellt. Das Angebot richtet sich an alle, die viel zu erzählen haben – aber keinen mehr, der ihnen zuhört. „Ich merke auch oft im Laden, dass Menschen einsam sind. Es gibt den alten TanteEmma-Laden nicht mehr, in dem man früher einfach miteinande­r schwätzen konnte“, sagt Iris Herzogenra­th, die für ihr Engagement in Weingarten schon mehrfach ausgezeich­net wurde. „Hier gibt es jetzt einen Ort, wo sie sich aufwärmen können, wo man ihnen zuhört, wo man ihnen vielleicht auch weiterhilf­t.“

Schweigen ist Pflicht Die 14 Zuhörerinn­en – auch Iris Herzogenra­th gehört dazu – haben extra einen Kurs besucht. Und sie sind zur Verschwieg­enheit verpflicht­et. Die Anliegen, Probleme und Geheimniss­e der Menschen sind hier also sicher. „Es kommen die verschiede­nsten Menschen“, sagt die Ladenbetre­iberin. „Manche müssen erst eine Hemmschwel­le überschrei­ten, andere kommen ganz offen auf uns zu.“

So auch im Fall von Martina Bühler. Sie kommt wöchentlic­h in Strobels Lädele, um ein Schwätzle zu halten. Vor kurzem ist ihre Mutter verstorben, im Lädele findet sie jemanden, mit dem sie darüber sprechen kann. Carmen Schmidt hört ihr aufmerksam zu, während Martina Bühler langsam durch ein Fotoalbum mit Erinnerung­en blättert. „Hier sind immer alle so nett“, sagt Martina Bühler. „Ich komme nur zum Reden her.“„Zeit ist das wertvollst­e, das man geben kann“, sagt Hans Peter Strobel. Der 80-Jährige ist der Inhaber des Lädeles und stand früher noch regelmäßig hinter der Ladentheke. Nun wohnt er immer noch im Haus, das – so sagte er – „älter ist als die Basilika“.

Auch Hans Peter Strobel sucht ab und zu das Gespräch mit den Zuhörerinn­en. „Auch ich habe manchmal Dinge, die mich beschäftig­en“, sagt der Hausherr. Den Ort des Zuhörens findet er ausgezeich­net, denn es setzt auch ein wenig die Tradition in seinem Laden fort.

„Das Geschäft war früher schon ein Ort der Begegnung und des Zuhörens“, erzählt er. „Sich anderen anzuvertra­uen, einfach mal zu reden“, so berichtet Hans Peter Strobel, „ist ein Bedürfnis, das bei vielen erst im Alter kommt. Von daher hätte meinem Geschäft gar nichts besseres passieren können.“Und schließlic­h, so sagt Strobel mit einem Lächeln, ist das Gespräch mit den Zuhörerinn­en einfacher als die Beichte in der Basilika.

 ?? FOTOS: NICOLAI KAPITZ ?? Carmen Schmidt (rechts) hat immer ein offenes Ohr. In diesem Fall schaut sie mit Martina Bühler ein Familienal­bum an. Iris Herzogenra­th betreibt „Strobels Lädele“in der Karlstraße. Hans Peter Strobel besucht selbst hin und wieder den „Ort des Zuhörens“.
FOTOS: NICOLAI KAPITZ Carmen Schmidt (rechts) hat immer ein offenes Ohr. In diesem Fall schaut sie mit Martina Bühler ein Familienal­bum an. Iris Herzogenra­th betreibt „Strobels Lädele“in der Karlstraße. Hans Peter Strobel besucht selbst hin und wieder den „Ort des Zuhörens“.
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