Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Chef zwischen den Linien
Pep Guardiolas Lieblingsschüler Thiago blüht unter Carlo Ancelotti richtig auf bei Bayern
MÜNCHEN - „Thiago – oder nix“, hat Carlo Ancelotti noch nie gesagt. Das war der längst Flügel bekommene Satz von Ancelottis Trainervorgänger Pep Guardiola, um den Transfer seines Lieblingsschülers im Sommer 2013 zum FC Bayern München einzuleiten. Ancelotti hat dagegen, mehr als dreieinhalb Jahre nach Guardiola, diese zwar etwas längeren, aber nicht minder schönen Sätze über den katalanischen Mittelfeldspieler mit brasilianischen Wurzeln geäußert: „Thiago hat wirklich sehr gut gespielt, er hat sich immer zwischen ihren Linien positioniert, was sehr wichtig für uns war, weil er nahe an den Mittelfeldspielern stand und uns außen mehr Freiheiten gegeben hat so. Seine Leistung war sehr gut, er hat dazu noch zwei Tore geschossen. Das war perfekt.“
Rund 45 Minuten waren da seit jenem vor allem in der zweiten Halbzeit mehr Rausch als Fußballspiel gewesenen 5:1 (1:1) im Achtelfinalhinspiel in der Champions League des FC Bayern gegen den FC Arsenal vergangen. Ancelotti und die Zuschauer hatten ein Spiel erlebt, in dem die Bayern endlich ihre in den letzten Wochen selbstauferlegten Ketten abgelegt, ihre ganze Kraft entfaltet und den Londonern einen „Albtraum“beschert hatten, wie deren Trainer Arsène Wenger sagte.
Die Bayern, so scheint es, sind bereit für die großen Aufgaben. Der Triumph über den Lieblingsgegner, der schon die Hilfe sämtlicher irdischer und übersinnlicher Kräfte bräuchte, um das siebte Ausscheiden im Achtelfinale der Königsklasse hintereinander zu verhindern, räumte viele Zweifel aus. „Das hat mich begeistert und entspannt. Es war ein Abend zum Genießen“, sagte Präsident Uli Hoeneß tags darauf.
Träumen ist für die Fans nach diesem Spiel mit den Toren von Arjen Robben, Robert Lewandowski, zweimal Thiago und Thomas Müller wieder erlaubt. So souverän, so wuchtig, so selbstbewusst waren die Bayern schon lange nicht mehr aufgetreten. Der Sieg war noch höher einzuschätzen als das überklare 3:0 gegen RB Leipzig kurz vor Weihnachten. Weil die Spieler nach dem unnötigen Gegentor Mitte der ersten Halbzeit zwar gewankt hatten und bis zur Pause mehr mit dem Schiedsrichter gehadert hatten, als aufs zweite Tor zu drängen. Doch wer dann so stark und entschlossen zurückkommt, der ist vielleicht wirklich gewappnet für die größten Schlachten. Wer auch nach so einem Sieg noch das Haar in der Suppe sucht, sollte sowieso auf einem guten Weg sein. „Da musst du dein Leben reinwerfen, um den Nachschuss zu verhindern“, sagte Arjen Robben zum Abwehrverhalten nach dem Elfmeter, als Alexis Sánchez zweimal nachschießen konnte, ehe der von Manuel Neuer zunächst parierte Ball doch ins Tor ging.
„Ich habe das Gefühl, dass unsere Mannschaft begeisternden Fußball spielen kann, wenn es darauf ankommt – wie schon gegen Leipzig“, sagte Hoeneß am Donnerstag. Und auch Robben, die Flügeldribbler gewordene Mentalitätsmaschine, ergänzte noch: „Die Mannschaft hat eine Riesenmentalität, einen Riesencharakter gezeigt.“
Doch der Triumph gegen Arsenal hatte nicht nur etwas mit Mentalität zu tun. Er lag eben auch nicht ganz unwesentlich an Thiago, nicht nur wegen seiner zwei Tore und einer Vorlage. 106 Ballkontakte sammelte er gegen die Engländer, 54 Prozent seiner Zweikämpfe gewann er, 90 Prozent seiner Pässe fanden einen Mitspieler – weit überdurchschnittliche Quoten für einen Spielgestalter, zumal für einen, der nicht klassischerweise aus der Tiefe des Raumes oder hinter den Angreifern agiert, sondern eben „zwischen den Linien“, ergo: überall.
Ancelotti, der den 25-Jährigen zu „den besten Mittelfeldspielern der Welt“zählt, hat seinen Chef für sein Millionen-Ensemble gefunden. In Ancelottis 4-2-3-1 – 4-3-3-Hybrid ist Thiago Taktgeber, Spielgestalter, Bindeglied und Rhythmusgeber. „Wir brauchen ihn für seine Kreativität, seine Pässe“, sagte Robben. Das hätten sie freilich auch schon brauchen können, als Thiagos Mentor Guardiola noch in München war. Doch da wurde Thiago immer wieder von Verletzungen zurückgeworfen. Nun kann er zeigen, was er wirklich draufhat.