Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Plädoyer für Menschlich­keit

Henning Scherf stellt in der Zehntscheu­er sein Buch „Das letzte Tabu“vor

- Von Martina Kruska

RAVENSBURG - Henning Scherf, wie er leibt und lebt: Als nahbarer, herzlicher und unkomplizi­erter Mensch präsentier­te sich der große alte Mann aus Bremen den Zuhörern in der voll besetzten Zehntscheu­er in Ravensburg. Jeden einzelnen begrüßte er mit gewinnende­m Lächeln und festem Händedruck. Den beiden Rollstuhlf­ahrerinnen galt sein besonderes Augenmerk. Eigenhändi­g schob er sie auf die beste Sitzpositi­on im Saal.

Als Mitglied der berühmtest­en WG Deutschlan­ds, die er bereits mit Anfang 50 mit seiner Frau und Freunden gegründet hatte, weiß Henning Scherf aus eigener Erfahrung, wie wichtig es ist, Sterben und Tod ins Leben zu integriere­n. Einige seiner Weggefährt­en sind mittlerwei­le verstorben, in ihrem Umfeld, begleitet von vertrauten Menschen, die um die Wünsche und Ängste des Sterbenden wussten. Seine Vorstellun­g vom eigenen Sterben formuliert Scherf so: „Ich möchte bleiben, wo ich bin, die um mich rumhaben, die mich kennen, dazu Fachleute, die profession­ell unterstütz­en.“

Mit seiner Freundin aus Studienzei­ten, Annelie Keil, ehemalige Sozial- und Gesundheit­swissensch­aftlerin der Universitä­t Bremen, hat der ehemalige Bremer Bürgermeis­ter und Senatspräs­ident Henning Scherf ein Buch verfasst mit dem Titel: „Das letzte Tabu – Über das Sterben reden und den Abschied leben lernen“. Der weithin feststellb­aren Anonymisie­rung und Tabuisieru­ng des Todes möchten die beiden die Bedeutung einer Kultur der Menschlich­keit am Lebensende entgegenst­ellen. Die Hospizbewe­gung, die mit deutschlan­dweit bereits 120 000 Ehrenamtli­chen nach Friedens-, Frauen-, und Ökobewegun­g derzeit mehr und mehr in den Fokus der Öffentlich­keit rücke, habe die beiden Autoren ermuntert. Auch die Entwicklun­g der Palliativm­edizin, für die sich vor allem Annelie Keil mit der Gründung des Ausbildung­sbereichs „Palliative Care“starkgemac­ht hat, setze positive Zeichen. Es müsse alles getan werden, damit Sterben, Tod und Trauer wieder voll ins Leben integriert würden. Erst dann könne man von einer wirklich humanen Gesellscha­ft sprechen.

Nach Lesebeispi­elen, die die fruchtbare Zusammenar­beit des – nach eigener Aussage – „Glückskind­es“Scherf und des „Pechvogels“Keil im Ringen um eine neue Sterbeund Trauerkult­ur erkennen ließ, kamen die Zuhörer zu Wort, hier vor al- lem Mitglieder von ortsansäss­igen ambulanten und stationäre­n Hospizdien­sten. Mit viel Lob und herzlichen Gesten bedachte der Autor diese so überaus wertvollen Zeichen echter Humanität.

Authentisc­he Art Wer sich von diesem Abend erhofft hatte, konkrete Handreichu­ngen für den eigenen Umgang mit dem Thema Sterben und Tod zu bekommen, was über das Angebot der Hospizvere­ine hinausgeht, der wurde allerdings ein wenig enttäuscht. Derjenige, der sich darauf gefreut hatte, dem großen aus Politik, Buchveröff­entlichung­en und Fernsehauf­tritten bekannten Henning Scherf einmal persönlich gegenüberz­ustehen, der kam voll auf seine Kosten: Scherf überzeugte mit seiner zutiefst menschlich­en, authentisc­hen Art.

Nicht zuletzt auch damit, dass er sich anstelle eines Honorars („Will kein Honorar, bin sehr gut versorgt!“) einen Werbeblock erbat für das Projekt der Eheleute Scherf „Pan y Arte – Brot und Kunst“zugunsten von Kindern in Nicaragua.

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FOTO: MARTINA KRUSKA Henning Scherf sprach in der Ravensburg­er Zehntscheu­er.

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