Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Plädoyer für Menschlichkeit
Henning Scherf stellt in der Zehntscheuer sein Buch „Das letzte Tabu“vor
RAVENSBURG - Henning Scherf, wie er leibt und lebt: Als nahbarer, herzlicher und unkomplizierter Mensch präsentierte sich der große alte Mann aus Bremen den Zuhörern in der voll besetzten Zehntscheuer in Ravensburg. Jeden einzelnen begrüßte er mit gewinnendem Lächeln und festem Händedruck. Den beiden Rollstuhlfahrerinnen galt sein besonderes Augenmerk. Eigenhändig schob er sie auf die beste Sitzposition im Saal.
Als Mitglied der berühmtesten WG Deutschlands, die er bereits mit Anfang 50 mit seiner Frau und Freunden gegründet hatte, weiß Henning Scherf aus eigener Erfahrung, wie wichtig es ist, Sterben und Tod ins Leben zu integrieren. Einige seiner Weggefährten sind mittlerweile verstorben, in ihrem Umfeld, begleitet von vertrauten Menschen, die um die Wünsche und Ängste des Sterbenden wussten. Seine Vorstellung vom eigenen Sterben formuliert Scherf so: „Ich möchte bleiben, wo ich bin, die um mich rumhaben, die mich kennen, dazu Fachleute, die professionell unterstützen.“
Mit seiner Freundin aus Studienzeiten, Annelie Keil, ehemalige Sozial- und Gesundheitswissenschaftlerin der Universität Bremen, hat der ehemalige Bremer Bürgermeister und Senatspräsident Henning Scherf ein Buch verfasst mit dem Titel: „Das letzte Tabu – Über das Sterben reden und den Abschied leben lernen“. Der weithin feststellbaren Anonymisierung und Tabuisierung des Todes möchten die beiden die Bedeutung einer Kultur der Menschlichkeit am Lebensende entgegenstellen. Die Hospizbewegung, die mit deutschlandweit bereits 120 000 Ehrenamtlichen nach Friedens-, Frauen-, und Ökobewegung derzeit mehr und mehr in den Fokus der Öffentlichkeit rücke, habe die beiden Autoren ermuntert. Auch die Entwicklung der Palliativmedizin, für die sich vor allem Annelie Keil mit der Gründung des Ausbildungsbereichs „Palliative Care“starkgemacht hat, setze positive Zeichen. Es müsse alles getan werden, damit Sterben, Tod und Trauer wieder voll ins Leben integriert würden. Erst dann könne man von einer wirklich humanen Gesellschaft sprechen.
Nach Lesebeispielen, die die fruchtbare Zusammenarbeit des – nach eigener Aussage – „Glückskindes“Scherf und des „Pechvogels“Keil im Ringen um eine neue Sterbeund Trauerkultur erkennen ließ, kamen die Zuhörer zu Wort, hier vor al- lem Mitglieder von ortsansässigen ambulanten und stationären Hospizdiensten. Mit viel Lob und herzlichen Gesten bedachte der Autor diese so überaus wertvollen Zeichen echter Humanität.
Authentische Art Wer sich von diesem Abend erhofft hatte, konkrete Handreichungen für den eigenen Umgang mit dem Thema Sterben und Tod zu bekommen, was über das Angebot der Hospizvereine hinausgeht, der wurde allerdings ein wenig enttäuscht. Derjenige, der sich darauf gefreut hatte, dem großen aus Politik, Buchveröffentlichungen und Fernsehauftritten bekannten Henning Scherf einmal persönlich gegenüberzustehen, der kam voll auf seine Kosten: Scherf überzeugte mit seiner zutiefst menschlichen, authentischen Art.
Nicht zuletzt auch damit, dass er sich anstelle eines Honorars („Will kein Honorar, bin sehr gut versorgt!“) einen Werbeblock erbat für das Projekt der Eheleute Scherf „Pan y Arte – Brot und Kunst“zugunsten von Kindern in Nicaragua.