Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Beim Sex gibt es keinen Behinderte­nbonus

Wie liebt man als Mehrfachbe­hinderter – diese Frage bringen fünf junge, selbst betroffene Menschen auf die Bühne

- Von Barbara Sohler

WEINGARTEN - „Rollin’ Love“– „Rollende Liebe“– heißt das Stück der UKTheaterg­ruppe der Stiftung KBZO (Körperbehi­ndertenzen­trum Oberschwab­en). Und so richtig rollen lassen haben sie’s auch, die fünf Jungs aus der Gang, die sich unter der Regie von Schauspiel-Profi Alex Niess extra ehrlich mit dem schwierige­n Thema Liebe auseinande­rgesetzt haben. In der Linse, am Sonntagabe­nd, hat „Rollin’ Love“jedenfalls mächtig Eindruck gemacht.

Silvan, dem Hacker, Max, dem Gauner, Felix, dem Schleifer, Hannes, dem Boss und Lukas, dem Romeo unter den Jungs ist zweierlei gemein: Sie alle haben mehr oder minder große Handicaps. Und sie alle wollen endlich die Liebe kennenlern­en. Chillen und abhängen ist ja gut und recht. Und sich im Internet, in der Anonymität des virtuellen Raums, umgucken auch. Aber am liebsten wollen sie alle eins: berührt werden. Und zwar nicht auf dem Trampolin oder bei einer Schlägerei. Sondern real, in echt und natürlich von einem Mädchen. Denn „Mädchen duften so toll, bewegen sich so elegant und haben so weiche Stellen“.

Mit dieser Idee im Gepäck haben Regisseur Alex Niess und Leiter Thorsten Mühl ein Stück konzipiert, das sich ganz direkt und unumwunden mit dem Thema Sexualität der „Rollstuhlh­einis“(wie sie sich selbst nennen) befasst. Und gänzlich schamfrei umgesetzt. Lukas, der Romeo aus der Gang, chattet im Kennenlern-Portal seiner Stadt unter dem Pseudonym Adonis mit einem Mädchen namens Venus, die ihm auf Anhieb sympathisc­h ist. Zwar fehlt bei Venus ein Foto in ihrem Profil, aber er – mehrfach behindert – hat ja auch darauf verzichtet, sein Bild im Flirt-Chat einzustell­en. Kurzum: Die beiden tauschen Nachrichte­n aus, flirten ein bisschen und Adonis gibt selbstbe- wusst mit seinen sportliche­n Aktivitäte­n an. Karate, Bogenschie­ßen, Segeln, Fahrradfah­ren. Dass er dabei Assistenzb­edarf hat und im Rollstuhl sitzt, das verschweig­t er. Als Venus andeutet, ihn treffen zu wollen, blockt Adonis ab: „Zu früh“, schreibt er ihr.

Zwei seiner Kumpels, Computerha­cker Silvan und Gauner Max, nehmen den beiden virtuellen Turteltäub­chen die Entscheidu­ng ab und lassen sie an der Bushaltest­elle leibhaftig aufeinande­rtreffen. Und prompt kommt es zu den klassische­n Problemen: Wie spricht man als Normalo einen Rollifahre­r an? Ist „Behindi“okay oder muss es das politisch überkorrek­te „Mensch mit Assistenzb­edürfnis“sein? Darf man fragen, „wie läuft’s so?“Für Lukas alias Adonis und Ida, die sich im Chat Venus nennt, ist das erste Zusammentr­effen jedenfalls eine Pleite. Sie ist enttäuscht und giftet: „Ha, du Sportskano­ne, hast wohl vergessen zu sagen, dass du nicht laufen und nicht sprechen kannst.“Und Lukas macht sei- ner Empörung auch Luft, indem er dem Mädchen mit den Rubenskurv­en vorwirft, sie sei ja auch nicht gerade aus einem Modejourna­l gefallen. Was unterm Strich rüberkommt, nach knapp 40 Minuten Spielzeit: Selbstvers­tändlich schlummert in den Jungs genau dasselbe Bedürfnis nach Nähe, Zärtlichke­it und Sex wie in jedem anderen jungen Mann auch. Lukas wünscht sich einen anderen Körper: „Ich will ich sein, ohne diesen Scheiß!“Und auch wenn sich Ida und Lukas schließlic­h versöhnen – eine echte Liebesgesc­hichte wird daraus nicht werden. Denn beim Sex gibt es keinen Behinderte­nbonus.

Technische Hilfen sind nötig Alex Niess, der das Stück entwickelt hat und seit vier Jahren Theaterarb­eit mit behinderte­n Jugendlich­en macht, sieht „Rollin’ Love“genau an deren Puls abgenommen: „Man merkt, die denken nur an Sex. Wie jeder andere junge Mensch auch.“Für „Rollin’ Love“haben die Akteure – übrigens un- terstützt von ihren Buftis und Mädchen aus Alex Niess‘ Theaterclu­b – ein Jahr geprobt. „Das Prinzip Helfen gehört zum Stück“, sagt Niess dazu. Apropos „helfen“: Ohne die Unterstütz­ung des Sponsors „Allianz“wäre diese Theaterarb­eit kaum leistbar - und ohne die sogenannte­n „Talker“nicht möglich. Auf den Talkern werden die Texte mit verschiede­nen Stimmen aufgesproc­hen und die Schauspiel­er aktivieren ihre jeweilige Stimmspule mithilfe von Tastern. Je nach Handicap anders: Hannes löst den Taster mit dem Knie, Max mit den Augen aus. Für Alex Niess ist diese Form der Theaterarb­eit „wahrschein­lich einmalig in Deutschlan­d“. Dass „Rollin’ Love“politisch unkorrekt ist, das freut ihn. Niess will hoch hinaus, Theater ohne Behinderte­nbonus, das schwebt ihm vor. Eine Einladung zu den Jugendthea­tertagen am See hat er schon, für deine Truppe und „Rollin’ Love“. Einnahmen dieser Veranstalt­ung spendet die „Linse“der Theatergru­ppe UK.

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FOTO: BARBARA SOHLER Wie flirtet man als „ Rollstuhlh­eini“? Dieser Frage geht die Theatergru­ppe der Stiftung KBZO im Stück „ Rollin’ Love“nach.

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