Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Beim Sex gibt es keinen Behindertenbonus
Wie liebt man als Mehrfachbehinderter – diese Frage bringen fünf junge, selbst betroffene Menschen auf die Bühne
WEINGARTEN - „Rollin’ Love“– „Rollende Liebe“– heißt das Stück der UKTheatergruppe der Stiftung KBZO (Körperbehindertenzentrum Oberschwaben). Und so richtig rollen lassen haben sie’s auch, die fünf Jungs aus der Gang, die sich unter der Regie von Schauspiel-Profi Alex Niess extra ehrlich mit dem schwierigen Thema Liebe auseinandergesetzt haben. In der Linse, am Sonntagabend, hat „Rollin’ Love“jedenfalls mächtig Eindruck gemacht.
Silvan, dem Hacker, Max, dem Gauner, Felix, dem Schleifer, Hannes, dem Boss und Lukas, dem Romeo unter den Jungs ist zweierlei gemein: Sie alle haben mehr oder minder große Handicaps. Und sie alle wollen endlich die Liebe kennenlernen. Chillen und abhängen ist ja gut und recht. Und sich im Internet, in der Anonymität des virtuellen Raums, umgucken auch. Aber am liebsten wollen sie alle eins: berührt werden. Und zwar nicht auf dem Trampolin oder bei einer Schlägerei. Sondern real, in echt und natürlich von einem Mädchen. Denn „Mädchen duften so toll, bewegen sich so elegant und haben so weiche Stellen“.
Mit dieser Idee im Gepäck haben Regisseur Alex Niess und Leiter Thorsten Mühl ein Stück konzipiert, das sich ganz direkt und unumwunden mit dem Thema Sexualität der „Rollstuhlheinis“(wie sie sich selbst nennen) befasst. Und gänzlich schamfrei umgesetzt. Lukas, der Romeo aus der Gang, chattet im Kennenlern-Portal seiner Stadt unter dem Pseudonym Adonis mit einem Mädchen namens Venus, die ihm auf Anhieb sympathisch ist. Zwar fehlt bei Venus ein Foto in ihrem Profil, aber er – mehrfach behindert – hat ja auch darauf verzichtet, sein Bild im Flirt-Chat einzustellen. Kurzum: Die beiden tauschen Nachrichten aus, flirten ein bisschen und Adonis gibt selbstbe- wusst mit seinen sportlichen Aktivitäten an. Karate, Bogenschießen, Segeln, Fahrradfahren. Dass er dabei Assistenzbedarf hat und im Rollstuhl sitzt, das verschweigt er. Als Venus andeutet, ihn treffen zu wollen, blockt Adonis ab: „Zu früh“, schreibt er ihr.
Zwei seiner Kumpels, Computerhacker Silvan und Gauner Max, nehmen den beiden virtuellen Turteltäubchen die Entscheidung ab und lassen sie an der Bushaltestelle leibhaftig aufeinandertreffen. Und prompt kommt es zu den klassischen Problemen: Wie spricht man als Normalo einen Rollifahrer an? Ist „Behindi“okay oder muss es das politisch überkorrekte „Mensch mit Assistenzbedürfnis“sein? Darf man fragen, „wie läuft’s so?“Für Lukas alias Adonis und Ida, die sich im Chat Venus nennt, ist das erste Zusammentreffen jedenfalls eine Pleite. Sie ist enttäuscht und giftet: „Ha, du Sportskanone, hast wohl vergessen zu sagen, dass du nicht laufen und nicht sprechen kannst.“Und Lukas macht sei- ner Empörung auch Luft, indem er dem Mädchen mit den Rubenskurven vorwirft, sie sei ja auch nicht gerade aus einem Modejournal gefallen. Was unterm Strich rüberkommt, nach knapp 40 Minuten Spielzeit: Selbstverständlich schlummert in den Jungs genau dasselbe Bedürfnis nach Nähe, Zärtlichkeit und Sex wie in jedem anderen jungen Mann auch. Lukas wünscht sich einen anderen Körper: „Ich will ich sein, ohne diesen Scheiß!“Und auch wenn sich Ida und Lukas schließlich versöhnen – eine echte Liebesgeschichte wird daraus nicht werden. Denn beim Sex gibt es keinen Behindertenbonus.
Technische Hilfen sind nötig Alex Niess, der das Stück entwickelt hat und seit vier Jahren Theaterarbeit mit behinderten Jugendlichen macht, sieht „Rollin’ Love“genau an deren Puls abgenommen: „Man merkt, die denken nur an Sex. Wie jeder andere junge Mensch auch.“Für „Rollin’ Love“haben die Akteure – übrigens un- terstützt von ihren Buftis und Mädchen aus Alex Niess‘ Theaterclub – ein Jahr geprobt. „Das Prinzip Helfen gehört zum Stück“, sagt Niess dazu. Apropos „helfen“: Ohne die Unterstützung des Sponsors „Allianz“wäre diese Theaterarbeit kaum leistbar - und ohne die sogenannten „Talker“nicht möglich. Auf den Talkern werden die Texte mit verschiedenen Stimmen aufgesprochen und die Schauspieler aktivieren ihre jeweilige Stimmspule mithilfe von Tastern. Je nach Handicap anders: Hannes löst den Taster mit dem Knie, Max mit den Augen aus. Für Alex Niess ist diese Form der Theaterarbeit „wahrscheinlich einmalig in Deutschland“. Dass „Rollin’ Love“politisch unkorrekt ist, das freut ihn. Niess will hoch hinaus, Theater ohne Behindertenbonus, das schwebt ihm vor. Eine Einladung zu den Jugendtheatertagen am See hat er schon, für deine Truppe und „Rollin’ Love“. Einnahmen dieser Veranstaltung spendet die „Linse“der Theatergruppe UK.