Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Hiesige Pflegekräfte wandern vermehrt in die Schweiz ab
Immer mehr Oberschwaben mit einem Gesundheitsberuf lassen sich im Nachbarland nieder
RAVENSBURG - In kaum einer anderen Branche werden Fachkräfte so dringend gesucht wie im Gesundheitsbereich. Und der „Pflegenotstand“, den Fachverbände häufig prophezeien, macht dabei vor Ländergrenzen nicht halt: Er droht nicht nur in Deutschland, sondern in weiten Teilen Europas. Daher setzen viele Einrichtungen auf Rekrutierungen aus dem Ausland. Während in Deutschland immer mehr Personal aus Ostdeutschland und Asien zum Einsatz kommt, wirbt die Schweiz ihrerseits um deutsche und österreichische Gesundheits- und Krankenpfleger. Mit Erfolg: Auch aus dem Raum Bodensee-Oberschwaben wandern die Menschen in die Schweiz ab.
Björn Klein, der in Wahrheit einen anderen Nachnamen hat, arbeitet seit 2015 auf der Intensivstation eines Spitals in der Region Zürich. Der 35-Jährige aus Ravensburg nennt fünf Gründe, warum er in die Schweiz gegangen ist: höhere Lebensqualität, Ansehen und Wertschätzung, bessere Weiterbildungsmöglichkeiten sowie geringere Arbeitsbelastung.
Außerdem verdiene er in der Schweiz bei Weitem mehr als in Deutschland, so Klein. In der Schweiz habe er umgerechnet 6031 Euro netto, in Deutschland seien es netto 1700 Euro gewesen. „Man verdient in der Schweiz das Dreieinhalbfache, hat aber nur 20 Prozent mehr Ausgaben“, schildert der Auswanderer, „man kommt sehr gut ohne Nebenjobs aus und kann trotzdem in einem Haus wohnen, in den Urlaub fahren und sparen.“
Hierarchien sind flacher Und Björn Klein ist kein Einzelfall. Laut dem Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner SBK sind rund 40 Prozent aller Neueinstellungen mittlerweile ausländische Mitarbeiter. Der Zürcher Luca Angelastri kennt sich mit diesen Fällen bestens aus. Angelastri ist Stellenvermittler und spezialisiert auf Gesundheitsberufe. Aus der Region Bodensee-Oberschwaben hat er schon einige Personen bei einem Schweizer Arbeitgeber untergebracht. Und die Nachfrage nimmt zu. „Wir haben dreimal mehr Bewerbungen als noch vor zwei, drei Jahren“, sagt Angelastri. Seiner Meinung nach sei es vor allem die Arbeitsweise, die die Angestellten in der Schweiz schätzen würden. „Hier sind die Hierarchien flacher“, erklärt der Stellenvermittler, „die Ärzte sind keine Halbgötter in Weiß, und das Pflegepersonal bekommt
mehr Aufgaben und mehr Verantwortung übertragen.“
Genau diese Erfahrung hat die 35jährige Marlene Birk (Nachname von
der Redaktion geändert) aus Friedrichshafen gemacht. Die diplomierte Pflegeexpertin für Intensivpflege beschreibt: „Besser als in Deutschland ist definitiv der Umgang mit Vorgesetzten. Ich schätze es sehr, dass hier eine eigene Meinung gefragt ist und der Austausch einen voranbringt. Der Umgang ist freundlicher und menschlicher als in Deutschland. Es gibt keine Arroganz und keine Dominanz, keine Kollegen, die einen zu unterdrücken versuchen.“Seit drei Jahren lebt Birk in der Schweiz. Zurück nach Deutschland möchte sie nicht – obwohl ihre Arbeit ihr einiges abverlangt. „Die Anforderungen sind härter als im Vergleich zu meiner alten Arbeitsstelle in Deutschland“, sagt die 35-Jährige. „Doch das hat sein Gutes, weil ich mich enorm weiterentwickeln und viel Neues dazulernen konnte. Diese Möglichkeit hätte ich in Deutschland nie gehabt.“
Zu wenig Ausbildungsplätze Aber auch das Schweizer Gesundheitssystem weist Schwächen auf. Branchenkenner Luca Angelastri nennt zwei wesentliche Punkte, die zu einem Fachkräftemangel bei den Eidgenossen führen: „Zum einen werden zu wenig Ausbildungsplätze angeboten, zum anderen kommen immer mehr Gesundheitstouristen in die Schweiz, die sich hier operieren lassen.“Letzteres spreche in Angelastris Augen zwar für die Schweiz, sorge aber für einen Zuwachs an zu betreuenden Patienten. Trotz der fehlenden Mitarbeiter verzichtet das Nachbarland – anders als Deutschland – weitestgehend auf Hilfe aus Osteuropa. „Was die Qualität der Pflege angeht, sind wir hier sehr streng“, meint der Stellenvermittler, „und manches osteuropäische Personal ist schwer in den Job zu integrieren.“
Helena Zaugg vom Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner SBK sieht noch ein weiteres Problem für den Pflegenotstand. „Alles wird auf wirtschaftliche Effizienz getrimmt und darunter leidet dann der Personalschlüssel“, sagt sie. Nicht zu vergessen seien dabei die steigenden administrativen Aufgaben, die den Pflegekräften zusätzlich auferlegt würden. Zaugg: „So gesehen sind wir froh um jeden, der mithilft.“