Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Das Mittagessen mit den Fingerspitzen aussuchen
Ingolstädter Lokal hat mit Speisekarte in Brailleschrift großen Erfolg
INGOLSTADT (lby) - Auf dem Holztisch vor Wirt Sebastian Schmailzl liegen weiße DIN-A4-Papiere mit winzigen Punkten, zusammengehalten von einer schwarzen Spirale. Für die meisten Gäste im Gasthof Zum Anker in Ingolstadt ist die neue Speisekarte nur ein unscheinbares Ringbuch, für Blinde bedeutet sie Selbstständigkeit. Seit ein paar Wochen können sie mit den Fingerspitzen nach der „Entenbrust an OrangenCassis-Sauce“oder dem „Matjesfilet Hausfrauen Art“suchen.
Nicht mehr dasitzen wie ein Depp Den Anstoß gab Isolde Eichinger. Als Blinde war sie darauf angewiesen, dass ihr jemand die Gerichte vorliest. „Ich hab' das dick gehabt, dazusitzen wie ein Depp“, sagt die 58-Jährige. Die Bedienung war oft im Stress und hatte keine Zeit, die ganze Karte vorzulesen. „Da werd' ich grantig. Ich will auch wissen, welche Beilagen es zum Fleisch gibt.“Mit einer Freundin kam sie auf die Idee, eine Speisekarte in Brailleschrift zu drucken.
Aber der Vorschlag stieß selbst bei einigen Stammtischmitgliedern des Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbunds (BBSB) auf Widerstand: Der Druck sei zu teuer und selbst unter den Blinden könnten nicht alle die Brailleschrift lesen. „Da kamen dann so blöde Vorschläge wie bloß die Fleischgerichte zu übersetzen“, regt sich Eichinger auf. „So ein Schmarrn! Auch wenn ich blind bin, habe ich das Recht, alles zu erfahren.“Also haben die beiden Frauen heimlich die Initiative ergriffen und beim Wirtshaus nachgefragt.
Stolz in ihrer Stimme „Nachdem der Blindenbund wirklich schon seit zehn Jahren zu uns ins Haus kommt, haben wir gesagt, das können wir gerne machen“, sagt Wirt Schmailzl. Eichinger ist begeistert. „Seit ich die Speisekarte lesen kann, bekomm' ich ganz andere Gerichte“, sagt die 58-Jährige. Den Stolz in ihrer Stimme kann sie nicht unterdrücken.
„Eine Braille-Speisekarte ist schon eher die Ausnahme“, weiß Steffen Erzgraber aus eigener Erfahrung. Der BBSB-Geschäftsführer ist selbst blind und hat schon eine Speisekarte in Brailleschrift abgetippt. Wie viele Lokale barrierefreie Angebote für Blinde und Sehbehinderte anbieten, wissen aber weder die Blindenverbände noch der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband Dehoga.
Es steht nicht einmal fest, wie groß die Zielgruppe ist. Laut dem Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) reichen die Schätzungen von 650 000 bis zu 1,2 Millionen Blinde und Sehbehinderte deutschlandweit. Eine Annäherung für Bayern bieten die Zahlen des Zentrums Bayern Familie und Soziales: Demnach wiesen sich rund 13 000 Personen mit einem Schwerbehindertenausweis Ende 2016 als blind aus, ebenso viele erhielten Blindengeld. „Wir sind eine ziemlich kleine Gruppe. Deswegen erwarten wir auch keine Braille-Speisekarte“, erklärt Erzgraber. „Es kann auch nicht jede Servicekraft im Umgang mit Blinden geschult sein.“
Entscheidend sei, dass die Bedienungen aufgeschlossen seien. „Am besten ist es einfach, wenn man blinde Gäste direkt anspricht, welche Hilfe sie brauchen“, sagt Erzgraber. Im Gasthof Zum Anker informieren die Servicekräfte über Angebote der Tageskarte, beschreiben die Tischdekoration und erkundigen sich regelmäßig nach den Bedürfnissen ihrer Gäste.
Das Aura-Hotel in Saulgrub im Landkreis Garmisch-Partenkirchen hat sich auf blinde und sehbehinderte Gäste spezialisiert: Besucher werden dort an den Tisch geführt, das Essen hebt sich farblich vom Geschirr ab und die Teller werden von einer Büfettassistenz immer wieder mit Köstlichkeiten gefüllt. „Die Gerichte werden speziell auf dem Teller angerichtet, das Fleisch ist beispielsweise immer unten auf sechs Uhr“, sagt Sabine Leistle vom Aura-Hotel.
Diesen Service kann nicht jedes Lokal leisten. Eine realistische Orientierung bietet die sogenannte Kategorie C, die auf eine Vereinbarung zwischen Behinderten-, Hotel- und Gastronomieverbänden aus dem Jahr 2005 zurückgeht: Die Checkliste reicht von der richtigen Eingangstür bis zur hellen Beleuchtung. „Die Kategorie C sollte für alle gelten, das müsste eigentlich möglich sein“, sagt Erzgraber vom Blindenbund. Jedes Lokal kann mit einem Piktogramm ausweisen, dass es die Bedingungen erfüllt. Eine Kontrolle gibt es nicht.
Wenn Steffen Erzgraber mit seiner Frau ein neues Lokal in seinem Stadtviertel ausprobieren möchte, nutzt er kommerzielle Internetseiten, um sich zu informieren. Viele Wirtshäuser haben ihre Speisekarte dort als pdf-Datei hochgeladen. Mit einer speziellen Software kann der 33-Jährige die Informationen übersetzen. „Der sogenannte Screenreader ist für die jüngere Generation sehr praktisch. Zwei Drittel der Blinden sind aber über 65 Jahre. Ob ihnen das hilft, bezweifel ich“, sagt Erzgraber. „Braille-Speisekarten sind da natürlich schon eine gute Geschichte.“
Eine Investition von 150 Euro Für Sebastian Schmailzl vom Gasthaus Zum Anker hat sich die Investition von 150 Euro jedenfalls gelohnt: Seit ein paar Wochen kommt ein zweiter Blindenverband regelmäßig zum Stammtisch. „Im Raum Ingolstadt kann ich sagen – zu hundertprozentiger Sicherheit – dass es kein weiteres Lokal, Restaurant oder Café gibt mit einer Blindenkarte“, sagt der Wirt. Wenn es nach Isolde Eichinger geht, wird sich das bald ändern. „Heute war ich beim Italiener, die haben auch keine Speisekarte für Blinde. Aber vielleicht führ' ich's da mal ein“, sagt die 58-Jährige.