Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Jack Nicholson im Nacken
Wer sind die Leute, die sich tätowieren lassen? Ein Besuch auf der Tattoo-Messe in Ulm
- Blut und Wasser tropfen von seinem frisch rasierten Hinterkopf. Seine Halsschlagader pocht vor Anspannung. Passanten tuscheln „krass“, „brutal“und „crazy“. Andere kommen ins Stocken und glotzen einfach nur. Seit knapp vier Stunden sitzt Tobias Heckel bei der Ulmer Tattoo-Messe gekrümmt und verkehrt herum auf einem Stuhl mit einem Überzug aus schwarzem Kunstleder. Seine Stirn und seine Hände scheinen an der Rückenlehne zu kleben. Der junge Mann aus Munderkingen hat Stöpsel in den Ohren. Hip-Hop soll den Schmerz betäuben.
Ein bisschen tue es schon weh, gesteht der 28-Jährige in einer kurzen Verschnaufpause: „Aber so richtig dann erst heute Abend.“Bis das Tattoo auf seinem Hinterkopf fertig ist, werde es noch weitere zwei bis drei Stunden dauern, schätzt der Ulmer Tätowierer Pietro Castellano. „Pepe“, wie ihn seine Stammkunden nennen, ist quasi Heckels Tätowierer des Vertrauens. Ein richtiger Paukerschreck. Sein Gesicht ist übersät von schwarzen Linien, Schriftzügen und Punkten. Der 38-Jährige darf unter den Augen der Öffentlichkeit das Gesicht des US-Schauspielers Jack Nicholson aus dem Film „Shining“in Heckels Kopfhaut eingravieren. Warum? „Weil es mir halt gefällt. Ich brauche da keine Bedeutung für“, sagt der Produktionsmitarbeiter eines Biopharma-Konzerns. Am Ende der Messe sahnen Tätowierer und Tätowierter den ersten Platz in der Kategorie „Best of Crazy“ab.
Bis auf seinen Rücken habe er schon beinahe jedes Körperteil mit einem Tattoo versehen. Bei den Rippen habe er besonders auf die Zähne beißen müssen. Dort sei ganz wenig Haut zwischen Nadel und Kochen. Aber der Schmerz mache ihm nichts aus – im Gegenteil. „Das ist eine Sucht. Wenn du einmal angefangen hast, willst du nicht mehr aufhören“, sagt er. Als Nächstes käme der Hals dran. Welches Motiv sei noch unklar. Dass Menschen ihn anstarren und womöglich auch über ihn lästern, sei ihm vollkommen egal. „Dann sollen sie halt wegschauen, wenn es ihnen nicht passt.“
Seine Mutter ist extra zum Hinschauen gekommen. Beim Anblick ihres Sohnes verzieht sie zwar auch mal den Mundwinkel, lacht dann aber gleich wieder. Es sei in Ordnung, was ihr Sohn da macht: „Er ist alt genug“, sagt die Frau, die sich ebenfalls schon mal hat tätowieren lassen. „Tattoo bedeutet nicht mehr gleich Ex-Knacki, dieses Vorurteil gibt es nicht mehr“, sagt sie. „Körperschmuck“heißt das heute. Ab dem 18. Lebensjahr könne sie ihren Kindern zudem ja eigentlich auch nichts mehr verbieten.
Tobias’ Schwester Alisha lässt sich das Hinterkopf-Spektakel ebenfalls nicht entgehen. Als Geburtstagsgeschenk haben sie und ihr Bruder sich etwas auf die Innenseite der Unterlippe tätowieren lassen: Sie entschied sich für ein Herz, Tobias für einen Schriftzug, bei dem es wohl besser ist, dass ihn nicht jeder auf Anhieb sehen und lesen kann. „Es hat sich angefühlt wie eine Spritze beim Zahnarzt“, sagt Alisha.
Doch nicht alle auf der TattooMesse sind gar so „crazy“drauf. Denise und Daniel Salzer aus der Nähe von Krumbach haben sich am 22. April 2016 verlobt. Genau ein Jahr später wollen sie sich ein „Partnertattoo“auf den Unterarm stechen lassen: Denise bekommt eine Königinnenkrone, Daniel eine Königskrone. Wenn sie Hand in Hand spazieren, berühren sich beide Krönchen. „Das verbindet“, sagen sie über den insgesamt 220 Euro teuren Körperschmuck: „Man nimmt ihn mit ins Grab.“Und dessen sind sie sich sehr wohl bewusst. Beide sind seit dem 12. August 2016 nun schon in ihrer zweiten Ehe. Den „Prinzenstatus“hätten sie jetzt abgelegt. Ein Hintertürchen lassen sie sich bei ihren Tattoos aber immer offen, falls es doch nicht miteinander klappen sollte. Als Beweis ihrer Liebe haben sie sich schon den Buchstaben „D“stechen lassen – jeweils der Anfangsbuchstabe vom Namen des Partners, aber eben auch vom eigenen Namen. „Das hätten wir sonst nicht gemacht“, sagt Denise.
Hinter fast jeder Abbildung auf ihrem Körper stecke eine Geschichte, eine Intention. Als 17-Jährige hat sich die heute 38-Jährige eine Rose auf den Rücken tätowieren lassen. Eine Rose sei wie eine Frau. „Je nachdem wie man sie behandelt“, erklärt die gelernte Krankenschwester. Rosen könnten wunderschön sein, aber auch stechen – wenn man sie eben falsch anfasst. „Und so war ich damals auch drauf“, sagt sie. Ihre Eltern hatte sie damals nicht um Erlaubnis gefragt. Dem Tätowierer sei es egal „Wir wären dankbar, wenn ein Gesetz bald kommen würde.“Maik Frey tätowiert seit 30 Jahren und hofft auf eine Regelung zum Betreiben von Tattoo-Studios
gewesen: Er habe nicht nach dem Alter gefragt. „Vielleicht weil es kein schlimmes Symbol war.“
Zwar ist das Tätowieren von Minderjährigen in Deutschland nicht gesetzlich verboten. Besonders in elitären Tätowiererkreisen gilt es aber als sehr umstritten. „Kunden brauchen die richtige Reife“, sagt Maik Frey vom 1995 gegründeten Verein „Deutsche organisierte Tätowierer“(DOT). 15-Jährige hätten andere Vorstellungen von einem Motiv als ein 25-Jähriger: „Erst wollen sie eine Comicfigur, zehn Jahre später sind sie ein Fall fürs Weglasern.“Auch Einverständniserklärungen von Eltern werden oft nicht akzeptiert. „Am Ende gefällt das Tattoo nur der Mutter.“Der Kunde müsse wissen, worauf er sich einlässt. Eine einheitliche Regelung für alle rund 7000 Tattoo-Studios in Deutschland sei jedoch schwer zu verwirklichen, meint Frey: „Bei welchem Alter fangen wir an?“
Doch auch für die Hygiene gibt es keine bundesweiten Vorgaben. Auf der Messe reicht als Infektionsschutz eine einfache Frischhaltefolie. In Esslingen, wo Maik Frey sein Studio hat, und überhaupt in BadenWürttemberg kämen die Behörden nicht so häufig vorbei wie beispielsweise in Hessen. „Jedes Gesundheitsamt, jeder Landkreis, jede Stadt kontrolliert anders“, sagt er. Doch besonders im Bereich Hygiene machen sich die DOT stark und fordern eine Zugangsregelung: Wer demnach ein Tattoo-Studio eröffnen möchte, müsse im Voraus zum Beispiel ein Hygieneseminar besuchen, sich einem Gesundheitscheck unterziehen, aber auch Impfungen wie Hepatitis B nachweisen können. „Aber die Mühlen mahlen langsam“, sagt Frey, der sich schon seit mehr als 30 Jahren auf der Haut anderer Menschen verewigt.
Ein entsprechender Antrag sei vor knapp vier Jahren beim Bundesverbraucherministerium von Christian Schmidt (CSU) eingereicht worden. „Wir wären dankbar, wenn ein Gesetz bald kommen würde.“Auf den Ämtern werde allerdings weiter darüber diskutiert, noch mal eine Studie hinzugezogen – „wir warten optimistisch ab“. Bis dahin vertrauen die Tätowierer ihrem Berufsethos. Schwarze Schafe hätten demnach auf dem Markt sowieso keine Chance.
Anders als in Österreich, Norwegen oder Schweden regelt hingegen auch keine Kammer, wer sich in der Bundesrepublik Tätowierer nennen darf und wer nicht. Anderswo müsse „richtig gebüffelt“werden, Seminare besucht und ein Test mit rund 350 Fragen bewältigt werden, erzählt Frey. In Deutschland könne für „Es hat sich angefühlt wie eine Spritze beim Zahnarzt.“Alisha und ihr Bruder haben sich die Innenseite der Unterlippe tätowieren lassen
20 Euro ein Gewerbeschein gekauft und dann ein Laden eröffnet werden. Allerdings gehe es auch um das Handwerk, die Kunst – das einzig Wahre. Und das sei nicht so einfach zu beurteilen. „Behörden können das nicht einschätzen und wir haben dafür keine Zeit“, sagt Frey. Er kann und will sich auch nicht vorstellen, dass irgendwann eine Handwerkskammer die Geschicke und Interessen der Tätowierer vertritt. „Ich fühle mich immer noch als Pirat auf einem einsam schwankenden Piratenschiff“, sagt der 61-Jährige. Und diesen Status will er nicht aufgeben. Es solle vielmehr darauf geachtet werden, dass nicht „Unprofessionelle“in den Markt eintreten und Läden mit bis zu 20 Arbeitsplätzen eröffnen. Denn dann würde das Reich der Tattoo-Künstler der Kommerzialisierung zum Opfer fallen.
Der Weg zum Tattoo-Künstler ist „ein harter“, weiß Simone Sollai, Tattoo-Stecherin aus Hillscheid in der Nähe von Koblenz. Zu ihrem Angebot – auch auf der Tattoo-Messe in Ulm – gehören bereits vorgefertigte Muster, aber auch Selbstgezeichnetes. Seit acht Jahren macht sie den Job. Erst vor drei Jahren habe die 30-Jährige begriffen, welches Privileg das eigentlich sei. „Das soll nicht abwertend klingen, aber für mich sind das normale Kunden. Ich bleibe für sie aber ein Leben lang in Erinnerung.“Daher sei es natürlich schön, wenn Kunden ihr Selbstgezeichnetes auswählen. Doch die Umsetzung klappt nicht von heute auf morgen. Auch ein Tätowierer müsse seinen Stil erst finden, sich ausprobieren – zum Beispiel auf Schweinehaut.
Sollai, die sich auch „Miss Krümmel“nennt, hat es gerne bunt. Ihr ältester Kunde war 84. Er kam zu ihr ins Studio, nachdem seine Frau gestorben war. „Sie hatte Tattoos nie gewollt“, erzählt Sollai. „Erst dann hat er sich stechen lassen.“Auch Ursula Schwab aus Erbach lässt sich von „Miss Krümmel“auf der Messe zum ersten Mal tätowieren. „Obwohl sie sagte, sie wisse nicht genau, ob sie es machen will, war sie sehr zielstrebig“, beschreibt Sollai ihre Kundin. Seit mehr als einem Jahr darf Ursula Schwab ihre Enkelin nicht mehr sehen, weil sie in eine Pflegefamilie gekommen ist. Der endgültige Auslöser, das zu tun, worüber sie schon lange nachgedacht hat.
Künstlerisch geschwungen und hinterlegt mit Grüntönen wie aus einem Wasserfarbkasten, ziert jetzt der Schriftzug „Hope“ihren Oberarm. Sie will ihre Enkelin wiedersehen. Ob das klappt, weiß sie nicht. Was ihr bleibt, ist die Hoffnung.
„Das ist eine Sucht. Wenn du einmal angefangen hast, willst du nicht mehr aufhören.“Tobias Heckel über die zahlreichen Tattoos auf seinem Körper