Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Juncker will sozialpolitisches Profil schärfen
EU-Kommission schlägt 20 Grundsätze vor, die eine soziale Säule bilden sollen
BRÜSSEL - Höhere Sozialstandards für ganz Europa sind ein Kernanliegen der EU-Kommission unter ihrem Chef Jean-Claude Juncker. Er glaubt, dass die EU nur eine Zukunft hat, wenn sie die Lebensumstände der Arbeitnehmer spürbar verbessert. Am Mittwoch veröffentlichte die Behörde 20 Rechte und Grundsätze, die eine sogenannte soziale Säule bilden sollen. An erster Stelle wird dabei das Recht „auf allgemeine und berufliche Bildung und lebenslanges Lernen von hoher Qualität und in inklusiver Form“festgehalten. Außerdem sollen Kinder in der EU ein Recht „auf hochwertige, bezahlbare frühkindliche Bildung und Betreuung“haben. Bei den harmonisierten Elternzeitregeln sollen Vater und Mutter Anspruch auf je vier Monate Elternzeit haben, die nicht übertragbar sind. Jeder EU-Bürger habe zudem ein Recht „auf bezahlbare und hochwertige Langzeitpflegedienste, insbesondere auf häusliche Pflege und wohnortnahe Dienstleistungen“.
Widerstand ließ dennoch nicht auf sich warten. Der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber sagte: „Mit den heutigen Vorschlägen versucht die Kommission einmal mehr, Kompetenzen für Themen an sich zu reißen, für die sie weder durch die Europäischen Verträge noch durch die europäische Sozialcharta ein Mandat hat.“Steffen Kampeter vom Arbeitgeberverband erklärte, derartiger „Aktionismus und bürokratische Selbstüberschätzung“entfremde die Menschen weiter von Europa. Grünen und Linken sind die Anregungen zu vage und unverbindlich.
Ausgangspunkt der Überlegungen war eine Bestandsaufnahme der Situation auf dem europäischen Arbeitsmarkt. Laut Kommissarin Véra Jourová haben zwar 60 Prozent der Frauen und nur 50 Prozent der Männer einen Hochschulabschluss, doch die weibliche Beschäftigungsquote ist dennoch deutlich niedriger als die der Männer. Jeder möge im eigenen privaten Umfeld den Realitätstest machen. „Fragen Sie jede Familie, jede Frau, wie es sich anfühlt, wenn man zwischen Karriere und Kindern wählen muss.“Sie habe das selbst in den 1980er-Jahren in der Tschechoslowakei als Mutter kleiner Kinder schmerzlich erfahren, sagte die heute 52-jährige Politikerin.
Die neue Richtlinie zur Elternzeit soll es jungen Berufstätigen ermöglichen, Familie und Karriere besser in Einklang zu bringen. Neben jeweils vier Monaten Betreuungszeit, in denen Mutter und Vater eine Mindestlohnfortzahlung in Höhe des Krankengelds erhalten und die bis zum 12. Lebensjahr des Kindes beantragt werden können, soll es für den Vater nach der Geburt zehn Tage bezahlten Urlaub zusätzlich geben. Für die Betreuung alter und kranker Angehöriger sollen bis zu fünf Krankentage im Jahr beantragt werden können. Schließlich fordert die Kommission, dass Arbeitnehmer bis zum zwölften Lebensjahr des jüngsten Kindes oder für pflegebedürftige Angehörige Anspruch auf „flexible Arbeitsbedingungen“wie Gleitzeit oder Heimarbeitsplätze haben.
Für sie gilt ferner ein verstärkter Kündigungsschutz. Vor allem diese Forderung dürfte vielen Unternehmen Kopfzerbrechen bereiten, da sie ihre Beschäftigten dadurch teilweise über viele Jahrzehnte hinweg nur eingeschränkt einplanen können. Inwiefern die positiven Reaktionen einiger Großkonzerne wie Ikea tatsächlich zu familienfreundlicheren Arbeitsbedingungen führen, wird man abwarten müssen.
Anpassungsdruck erzeugen Durch eine jährlich aktualisierte Rangliste der Arbeitnehmerrechte im Ländervergleich will die Kommission ihren Forderungen Nachdruck verleihen und Anpassungsdruck hin zu einem EU-weit hohen Sozialniveau erzeugen. Dabei sollen Indikatoren wie der Anteil von Schulabbrechern, die Beschäftigungsquote und der Armutsindex erfasst werden. Die Ergebnisse sollen auch in die Haushaltsprüfung im Rahmen des Europäischen Semesters einfließen.
Ein in allen Mitgliedsländern möglichst gleich hoher sozialer Standard erleichtere die Entscheidung, in einem anderen Mitgliedsland eine Tätigkeit anzunehmen, glaubt Sozialkommissarin Marianne Thyssen. Das steigere die Jobchancen für alle Europäer.
Bis zum Jahresende hofft die Kommission sowohl die Regierungen als auch das Europaparlament so weit von ihren Ideen überzeugt zu haben, dass alle Institutionen gemeinsam eine „soziale Proklamation“veröffentlichen können.