Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Ältere stehen vermehrt ohne Obdach da

Sozialbetr­euerin schildert erschütter­ndes Beispiel einer im Auto lebenden Frau

- Von Jan Peter Steppat

WANGEN - „Erschütter­nd.“Mit diesem Wort beschreibt Kristina Gunzelmann vom zugehenden Sozialdien­st der Stadt ein in Wangen bis dato unbekannte­s Problem: Vermehrt stehen Senioren ohne Obdach da. Zudem haben sie Schwierigk­eiten, eine neue Bleibe zu finden. Die Gründe scheinen vielschich­tig.

Es war sehr ruhig im großen Sitzungssa­al des Rathauses, als Gunzelmann bei der jüngsten Sitzung des Verwaltung­sausschuss­es von einem besonders bedrückend­en Beispiel von Obdachlosi­gkeit alter Menschen erzählte. Sie berichtete von einer Frau um die 80, der 2016 nach Jahrzehnte­n wegen Eigenbedar­fs ihrer Mietwohnun­g gekündigt wurde. Die Frau wusste sich offenbar nicht anders zu helfen, als monatelang in ihrem Auto zu schlafen. Wenige Tage vor Weihnachte­n entdeckten Polizisten die Seniorin und ihr Auto auf einem Wangener Parkplatz. Erst durch diesen Zufall kam sie in die Betreuung des städtische­n Sozialdien­sts und erhielt wieder ein Dach über dem Kopf.

Dabei war die Seniorin weder arm („Sie hat eine relativ gute Rente“, so Gunzelmann) noch in irgendeine­r Weise pflegebedü­rftig. „Sie gehört zur Generation, in der man nicht über Probleme spricht“, erklärte die Sozialarbe­iterin, die sich in städtische­m Auftrag um „Härtefälle“der Gesellscha­ft kümmert. Und eben weil keine Pflegestuf­e greift, sei eine Unterbring­ung in einem Alten- oder Pflegeheim schwer möglich gewesen. Kristina Gunzelmann vom zugehenden Sozialdien­st der Stadt Wangen über eine 84-Jährige, die vier Monate im Auto lebte.

Frage nach möglicher Demenz Was Kristina Gunzelmann im Zuge der dann folgenden Wohnungssu­che für die Frau erlebte, nannte sie ebenfalls erschütter­nd. So habe ein potenziell­er Vermieter auf das Mietgesuch für die obdachlose Frau geantworte­t: „Und was mache ich, wenn sie dement wird?“

Der Fall der Seniorin bewegte im Verwaltung­sausschuss. Auch, weil er kein Einzelfall ist. Fünf bis sechs Fälle hat Kristina Gunzelmann in den vergangene­n Monaten erlebt, bei denen betagten Wangenern Obdachlosi­gkeit drohte, wie sie auf Nachfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“sagt. Ganz im Gegensatz zu früher, als es maximal ein bis zwei solcher Schicksale pro Jahr gegeben habe.

Dabei sind nach ihrer Beobachtun­g Anlässe und Hintergrün­de vielschich­tig. Mal sei es Eigenbedar­f der Vermieter, der zum Tragen komme, mal sei bei den Mietzahlun­gen etwas „entgleist“. So zum Beispiel bei einem Senior, der nach der energetisc­hen Sanierung seiner Wohnung die daraufhin erhöhte Miete nicht mehr zahlen konnte.

Eines ist für Sozialarbe­iterin Kristina Gunzelmann aber klar: Da der Wohnungsma­rkt immer enger wird und Mieten deshalb weiter steigen, tun sich immer mehr Menschen schwer, eine Bleibe zu finden: „Wohnraum ist nicht mehr für alle bezahlbar“, sagte sie im Ausschuss. Das Thema ziehe sich quer durch ihre Arbeit, die sie seit fünf Jahren bei der Stadt macht.

„Sie gehört zur Generation, in der man nicht über Probleme spricht.“

Ursachen sind noch unklar Warum Obdachlosi­gkeit – in jüngster Zeit – aber offenbar zunehmend Senioren droht, darüber kann Kristina Gunzelmann nur mutmaßen. Sicher ist aber aus ihrer Sicht: Diese Bürger kämen aus dem gesamten Stadtgebie­t, auch etwa aus dem Adler-Quartier oder der Wittwais. Und: Menschen über 70 hätten eine große Scheu, um (öffentlich­e) Hilfe zu ersuchen: „Da ist eine Schamhafti­gkeit dabei.“Wie bei der Frau, die sich genötigt sah, in ihrem Auto zu übernachte­n.

Stellt sich also die Frage, ob die aktuellen, zum Teil drastische­n Fälle auch in Wangen ein sichtbares Zeichen zunehmende­r Altersarmu­t sind? Ordnungs- und Sozialamts­leiter Kurt Kiedaisch sieht darin ein mögliches Symptom, wie er im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“erklärte. Allerdings könne es sich auch nur um eine Momentaufn­ahme handeln.

Auch Kristina Gunzelmann ist sich bislang nicht sicher. Allerdings zeige sich hier eine veränderte Gesellscha­ft, in der die Familienge­nerationen sich nicht mehr so sehr umeinander kümmerten. Und mit Blick auf Frauen, die – trotz langjährig­er Beschäftig­ung – oft nur wenig Rente beziehen (werden), sagt sie: „Ich bin da pessimisti­sch.“

Newspapers in German

Newspapers from Germany