Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Ältere stehen vermehrt ohne Obdach da
Sozialbetreuerin schildert erschütterndes Beispiel einer im Auto lebenden Frau
WANGEN - „Erschütternd.“Mit diesem Wort beschreibt Kristina Gunzelmann vom zugehenden Sozialdienst der Stadt ein in Wangen bis dato unbekanntes Problem: Vermehrt stehen Senioren ohne Obdach da. Zudem haben sie Schwierigkeiten, eine neue Bleibe zu finden. Die Gründe scheinen vielschichtig.
Es war sehr ruhig im großen Sitzungssaal des Rathauses, als Gunzelmann bei der jüngsten Sitzung des Verwaltungsausschusses von einem besonders bedrückenden Beispiel von Obdachlosigkeit alter Menschen erzählte. Sie berichtete von einer Frau um die 80, der 2016 nach Jahrzehnten wegen Eigenbedarfs ihrer Mietwohnung gekündigt wurde. Die Frau wusste sich offenbar nicht anders zu helfen, als monatelang in ihrem Auto zu schlafen. Wenige Tage vor Weihnachten entdeckten Polizisten die Seniorin und ihr Auto auf einem Wangener Parkplatz. Erst durch diesen Zufall kam sie in die Betreuung des städtischen Sozialdiensts und erhielt wieder ein Dach über dem Kopf.
Dabei war die Seniorin weder arm („Sie hat eine relativ gute Rente“, so Gunzelmann) noch in irgendeiner Weise pflegebedürftig. „Sie gehört zur Generation, in der man nicht über Probleme spricht“, erklärte die Sozialarbeiterin, die sich in städtischem Auftrag um „Härtefälle“der Gesellschaft kümmert. Und eben weil keine Pflegestufe greift, sei eine Unterbringung in einem Alten- oder Pflegeheim schwer möglich gewesen. Kristina Gunzelmann vom zugehenden Sozialdienst der Stadt Wangen über eine 84-Jährige, die vier Monate im Auto lebte.
Frage nach möglicher Demenz Was Kristina Gunzelmann im Zuge der dann folgenden Wohnungssuche für die Frau erlebte, nannte sie ebenfalls erschütternd. So habe ein potenzieller Vermieter auf das Mietgesuch für die obdachlose Frau geantwortet: „Und was mache ich, wenn sie dement wird?“
Der Fall der Seniorin bewegte im Verwaltungsausschuss. Auch, weil er kein Einzelfall ist. Fünf bis sechs Fälle hat Kristina Gunzelmann in den vergangenen Monaten erlebt, bei denen betagten Wangenern Obdachlosigkeit drohte, wie sie auf Nachfrage der „Schwäbischen Zeitung“sagt. Ganz im Gegensatz zu früher, als es maximal ein bis zwei solcher Schicksale pro Jahr gegeben habe.
Dabei sind nach ihrer Beobachtung Anlässe und Hintergründe vielschichtig. Mal sei es Eigenbedarf der Vermieter, der zum Tragen komme, mal sei bei den Mietzahlungen etwas „entgleist“. So zum Beispiel bei einem Senior, der nach der energetischen Sanierung seiner Wohnung die daraufhin erhöhte Miete nicht mehr zahlen konnte.
Eines ist für Sozialarbeiterin Kristina Gunzelmann aber klar: Da der Wohnungsmarkt immer enger wird und Mieten deshalb weiter steigen, tun sich immer mehr Menschen schwer, eine Bleibe zu finden: „Wohnraum ist nicht mehr für alle bezahlbar“, sagte sie im Ausschuss. Das Thema ziehe sich quer durch ihre Arbeit, die sie seit fünf Jahren bei der Stadt macht.
„Sie gehört zur Generation, in der man nicht über Probleme spricht.“
Ursachen sind noch unklar Warum Obdachlosigkeit – in jüngster Zeit – aber offenbar zunehmend Senioren droht, darüber kann Kristina Gunzelmann nur mutmaßen. Sicher ist aber aus ihrer Sicht: Diese Bürger kämen aus dem gesamten Stadtgebiet, auch etwa aus dem Adler-Quartier oder der Wittwais. Und: Menschen über 70 hätten eine große Scheu, um (öffentliche) Hilfe zu ersuchen: „Da ist eine Schamhaftigkeit dabei.“Wie bei der Frau, die sich genötigt sah, in ihrem Auto zu übernachten.
Stellt sich also die Frage, ob die aktuellen, zum Teil drastischen Fälle auch in Wangen ein sichtbares Zeichen zunehmender Altersarmut sind? Ordnungs- und Sozialamtsleiter Kurt Kiedaisch sieht darin ein mögliches Symptom, wie er im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“erklärte. Allerdings könne es sich auch nur um eine Momentaufnahme handeln.
Auch Kristina Gunzelmann ist sich bislang nicht sicher. Allerdings zeige sich hier eine veränderte Gesellschaft, in der die Familiengenerationen sich nicht mehr so sehr umeinander kümmerten. Und mit Blick auf Frauen, die – trotz langjähriger Beschäftigung – oft nur wenig Rente beziehen (werden), sagt sie: „Ich bin da pessimistisch.“