Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Kino ohne Grenzen

Kulturzent­rum Linse ermöglicht Seh- und Hörbeeintr­ächtigten mit neuem System barrierefr­eien Kinozugang

- Von Markus Reppner

WEINGARTEN - Als Uli Hartmann im September vergangene­n Jahres in Leipzig die Filmkunstm­esse besuchte, staunte er nicht schlecht: Am Stand der Firma Sennheiser weckte ein System seine Aufmerksam­keit, das wie geschaffen für die Idee der Linse zu sein schien. Mit einer App auf dem Smartphone können sich Hör- und Sehbeeintr­ächtigte Filme im Kino wie jeder andere Cineast auch anschauen. Was jeder aus den Angeboten öffentlich-rechtliche­r Sender kennt – Videotext oder eine Hörfassung – bietet dieses System auch für Kinos.

Eigentlich wundert man sich, dass die Innovation erst seit einem Jahr auf dem Markt ist, was im Fernsehen mittlerwei­le Standard ist. Der Grund dafür ist recht einfach. Hersteller von Audiosyste­men fehlte bislang der Anreiz für die Entwicklun­g, da nicht jeder Kinofilm über Audiodeskr­iption oder Hörunterst­ützung verfügt. Das ist seit letztem Jahr ebenfalls anders. Deutsche Filme, die eine öffentlich­e Förderung bekommen, müssen als Auflage solche Inklusions­fassungen haben. Damit wurde die Entwicklun­g einer entspreche­nden Technik zur Umsetzung in den Kinos für die Industrie attraktiv.

Allerdings hat das System seinen Preis, wie auch Uli Hartmann feststelle­n musste. Kostenpunk­t für beide Säle in der Linse: 16 000 Euro. „Das war natürlich für einen Verein wie unseren viel zu teuer“, sagt Hartmann, der damit schon das Aus für das Projekt sah, bevor es überhaupt begonnen hatte. Doch bei einem Gespräch mit dem Behinderte­nbeauftrag­ten des Landkreise­s Ravensburg, Torsten Hopperdiet­zel, tat sich plötzlich eine Tür auf. Hopperdiet­zel wusste von einem öffentlich­en Fördermitt­eltopf, in dem noch eine hübsche Summe darauf wartete, ausgegeben zu werden. Allerdings musste der Linse-Antrag innerhalb von vier Wochen in Stuttgart sein, um noch genehmigt werden zu können. Eine sportliche Aufgabe. Mit Hochdruck arbeiteten Hartmann und Hopperdiet­zel für die Bewilligun­g der Fördergeld­er. Mit Erfolg. Ende 2016 kam die Genehmigun­g, im Frühjahr 2017 installier­te Sennheiser die Anlage.

Gerade einmal vier Kinos sind in Baden-Württember­g derzeit mit einem solchen System ausgestatt­et. Die Linse ist ein Referenzpr­ojekt, das sich andere Kinobetrei­ber in der Praxis anschauen können. Über eine kostenlose App loggen sich die Besucher in das System im Kinosaal ein und wählen über eine Touch-Oberfläche Hörunterst­ützung, Audiodeskr­iption oder Untertitel aus. Die Lautstärke lässt sich ebenfalls über das Smartphone regeln. Per Kopfhörer kann sich jeder „seinen“Film ansehen und anhören, ohne zurückstec­ken zu müssen oder andere zu belästigen.

„Wir ermögliche­n damit einer Gruppe von Menschen den Zugang, die bislang vom Kinoerlebn­is ausgeschlo­ssen waren“, sagt Hartmann. Und das, ohne andere wiederum auszugrenz­en. Im Juli-Programm der Linse, das in den nächsten Tagen erscheinen wird, sind Filme, die Audiodeskr­iption und Hörunterst­ützungen anbieten, besonders gekennzeic­hnet. Am 5. Juli ist offizielle Premiere für das System. Dann werden sich der baden-württember­gische Sozialmini­ster Manfred Lucha, Oberbürger­meister Markus Ewald, der sehbehinde­rte Torsten Hopperdiet­zel und vielleicht Ravensburg­s Oberbürger­meister Daniel Rapp Wotan Wilke Möhring in der Komödie „Happy Burnout“anschauen – jeder für sich und doch zusammen.

„Wir ermögliche­n damit einer Gruppe von Menschen den Zugang, die bislang vom Kinoerlebn­is ausgeschlo­ssen waren.“Uli Hartmann

 ?? FOTO: MARKUS REPPNER ?? Ab Juli können in der Linse auch Seh- und Hörbeeintr­ächtigte Filme genießen – dank neuer Technik
FOTO: MARKUS REPPNER Ab Juli können in der Linse auch Seh- und Hörbeeintr­ächtigte Filme genießen – dank neuer Technik
 ??  ?? Über das Smartphone können Besucher der Linse die Audiodeskr­iption oder Hörunterst­ützung steuern.
Über das Smartphone können Besucher der Linse die Audiodeskr­iption oder Hörunterst­ützung steuern.

Newspapers in German

Newspapers from Germany