Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Kino ohne Grenzen
Kulturzentrum Linse ermöglicht Seh- und Hörbeeinträchtigten mit neuem System barrierefreien Kinozugang
WEINGARTEN - Als Uli Hartmann im September vergangenen Jahres in Leipzig die Filmkunstmesse besuchte, staunte er nicht schlecht: Am Stand der Firma Sennheiser weckte ein System seine Aufmerksamkeit, das wie geschaffen für die Idee der Linse zu sein schien. Mit einer App auf dem Smartphone können sich Hör- und Sehbeeinträchtigte Filme im Kino wie jeder andere Cineast auch anschauen. Was jeder aus den Angeboten öffentlich-rechtlicher Sender kennt – Videotext oder eine Hörfassung – bietet dieses System auch für Kinos.
Eigentlich wundert man sich, dass die Innovation erst seit einem Jahr auf dem Markt ist, was im Fernsehen mittlerweile Standard ist. Der Grund dafür ist recht einfach. Hersteller von Audiosystemen fehlte bislang der Anreiz für die Entwicklung, da nicht jeder Kinofilm über Audiodeskription oder Hörunterstützung verfügt. Das ist seit letztem Jahr ebenfalls anders. Deutsche Filme, die eine öffentliche Förderung bekommen, müssen als Auflage solche Inklusionsfassungen haben. Damit wurde die Entwicklung einer entsprechenden Technik zur Umsetzung in den Kinos für die Industrie attraktiv.
Allerdings hat das System seinen Preis, wie auch Uli Hartmann feststellen musste. Kostenpunkt für beide Säle in der Linse: 16 000 Euro. „Das war natürlich für einen Verein wie unseren viel zu teuer“, sagt Hartmann, der damit schon das Aus für das Projekt sah, bevor es überhaupt begonnen hatte. Doch bei einem Gespräch mit dem Behindertenbeauftragten des Landkreises Ravensburg, Torsten Hopperdietzel, tat sich plötzlich eine Tür auf. Hopperdietzel wusste von einem öffentlichen Fördermitteltopf, in dem noch eine hübsche Summe darauf wartete, ausgegeben zu werden. Allerdings musste der Linse-Antrag innerhalb von vier Wochen in Stuttgart sein, um noch genehmigt werden zu können. Eine sportliche Aufgabe. Mit Hochdruck arbeiteten Hartmann und Hopperdietzel für die Bewilligung der Fördergelder. Mit Erfolg. Ende 2016 kam die Genehmigung, im Frühjahr 2017 installierte Sennheiser die Anlage.
Gerade einmal vier Kinos sind in Baden-Württemberg derzeit mit einem solchen System ausgestattet. Die Linse ist ein Referenzprojekt, das sich andere Kinobetreiber in der Praxis anschauen können. Über eine kostenlose App loggen sich die Besucher in das System im Kinosaal ein und wählen über eine Touch-Oberfläche Hörunterstützung, Audiodeskription oder Untertitel aus. Die Lautstärke lässt sich ebenfalls über das Smartphone regeln. Per Kopfhörer kann sich jeder „seinen“Film ansehen und anhören, ohne zurückstecken zu müssen oder andere zu belästigen.
„Wir ermöglichen damit einer Gruppe von Menschen den Zugang, die bislang vom Kinoerlebnis ausgeschlossen waren“, sagt Hartmann. Und das, ohne andere wiederum auszugrenzen. Im Juli-Programm der Linse, das in den nächsten Tagen erscheinen wird, sind Filme, die Audiodeskription und Hörunterstützungen anbieten, besonders gekennzeichnet. Am 5. Juli ist offizielle Premiere für das System. Dann werden sich der baden-württembergische Sozialminister Manfred Lucha, Oberbürgermeister Markus Ewald, der sehbehinderte Torsten Hopperdietzel und vielleicht Ravensburgs Oberbürgermeister Daniel Rapp Wotan Wilke Möhring in der Komödie „Happy Burnout“anschauen – jeder für sich und doch zusammen.
„Wir ermöglichen damit einer Gruppe von Menschen den Zugang, die bislang vom Kinoerlebnis ausgeschlossen waren.“Uli Hartmann