Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Wenn Therapie mehr schadet als nützt
Kinder erhalten im Vergleich zu Erwachsenen besonders häufig Antibiotika
MÜNCHEN - Kleine Patienten bekommen oft völlig unnötig Antibiotika. Die Folge: gravierende Nebenwirkungen und multiresistente Keime. Dem Haunerschen Kinderspital in München ist es gelungen, den Einsatz um 60 Prozent zu reduzieren. Doch in Kliniken fehlt es an Expertise.
Der fünfjährige Felix hat eine Mittelohrentzündung. Der Arzt verschreibt ein Antibiotikum. Wieder mal. Aber war das wirklich nötig? Oder hätten Bettruhe und Zwiebelsäckchen auch ihre Wirkung gezeigt? Untersuchungen gehen davon aus, dass 30 bis 50 Prozent der Verordnungen von Antibiotika nicht gerechtfertigt sind.
Dabei kann ihre leichtfertige Gabe nicht nur verheerende Nebenwirkungen haben, sondern führt auch zur Zunahme multiresistenter Keime. Schwere bakterielle Infektionen sind dann unter Umständen nicht mehr behandelbar, weil Antibiotika ihre Wirksamkeit verlieren. Todesfälle können die Folge sein.
60 Prozent weniger Antibiotika
Das renommierte Haunersche Kinderspital in München setzt sich deshalb mit einem deutschlandweit einzigartigen Pilotprojekt für eine kritischere Vergabepraxis in der Pädiatrie ein. Mit überwältigendem Erfolg. Seit 2012 konnte das Haus den Antibiotikaverbrauch um 60 Prozent reduzieren – bei gleicher Sicherheit für die Patienten. „Die Klinik spart dadurch jährlich 180 000 Euro ein“, erklärt Professor Johannes Hübner, der das sogenannte „Antibiotic Stewardship Programm“initiiert hat. „Das ist eine Initiative, wie wir sie selten haben: Wir sparen Geld und tun gleichzeitig etwas Gutes für den Patienten“, sagt der Leiter der Infektiologie.
Die rasant zunehmenden Antibiotikaresistenzen beschäftigen längst auch die Politik. Im Freistaat gehört die Eindämmung von Antibiotikaresistenzen laut Ministerin Melanie Huml (CSU) zu den Hauptanliegen der Gesundheitspolitik. Doch bislang geht es vor allem um die Einhaltung von Hygienestandards in Kliniken. Antibiotic Stewardship, was so viel wie „Strategien zum vernünftigen und kritischen Einsatz von Antiinfektiva“bedeutet, sind in vielen Krankenhäusern noch nicht etabliert. Es fehlt qualifiziertes Personal.
Im Gegensatz zu anderen Ländern gibt es in Deutschland keinen Facharzt für Infektionskrankheiten. „Hier müssen mehr Ausbildungsstrukturen geschaffen werden, denn es gibt Tausende Bakterien, Pilze und Viren – sich hier auszukennen wie der Mikrobiologe, aber auch zu wissen, wie man den Patienten behandelt, ist entscheidend.“Immerhin gibt es mittlerweile entsprechende Weiterbildungsangebote.
Immunsystem erst aufbauen
Dabei besteht angesichts manchmal gravierender Verordnungsfehler dringend Handlungsbedarf. Über die Hälfte der Kinder zwischen drei und sechs Jahren erhält laut einer Bertelsmann-Studie mindestens einmal im Jahr Antibiotika.
„Häufig wird ein zu breites Antibiotikum verschrieben, eine zu hohe oder zu niedrige Dosis verordnet oder das Medikament unnötig lang gegeben“, sagt Hübner, selbst Familienvater. Nebenwirkungen wie Hautausschlag, Durchfall oder Störungen der Organfunktion können die Folge sein. „Zudem wird die Entwicklung des Immunsystems und der normalen physiologischen Flora der Kinder gestört“, erklärt der 57-Jährige.
Ein Baby müsse sein Immunsystem erst noch aufbauen. Der kleine Körper trainiere sich dabei an unterschiedlichen Bakterien. „Wenn sie da mit dem Holzhammer wichtige Bakterien durch eine fehlerhafte Antibiotikagabe ausknocken, kommt das Gleichgewicht ins Trudeln“, erklärt der Mediziner. Das Risiko auf schwere Autoimmunkrankheiten und Allergien werde so erhöht.
In der Haunerschen Kinderklinik hat Hübner gemeinsam mit einem Kollegen und einer Apothekerin darum die Vergabepraxis streng unter die Lupe genommen. Bestimmte neue oder besonders breit wirksame Substanzen dürfen nur noch in Rücksprache mit Hübners Team verabreicht werden. Eine Info-Karte bietet zusätzlich Orientierung. Auch die Dosierungsgenauigkeit sei extrem verbessert worden. „Antibiotika helfen Leben zu retten, aber wir müssen sie deutlich kritischer einsetzen“, betont Hübner.
Er hofft, dass die Erfahrungen aus München Strahlkraft haben und andere Klinikverwaltungen folgen. „Mittelfristig“, so der Forscher, „profitieren wir alle davon.“