Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
„Niedrige Löhne haben keine Arbeitsplätze geschaffen“
Leni Breymaier, SPD-Spitzenkandidatin im Südwesten, über Wahlziele, Rentenpläne und ein strategisches Dilemma
RAVENSBURG - Als Spitzenkandidatin der SPD hat Leni Breymaier eine schwierige Aufgabe. Nach der herben Schlappe bei den Landtagswahlen 2016 musste sie ihre Partei rasch wieder aufrichten und kampagnenfähig machen. Und das in Baden-Württemberg, wo die Genossen schon traditionell rund fünf Prozent weniger Stimmen bei Bundestagswahlen einfahren als im Deutschland-Schnitt. Im Interview mit Hendrik Groth, Ulrich Mendelin und Katja Korf erklärt sie, warum sie dennoch optimistisch und kampfeslustig in die letzten drei Wochen des Wahlkampfs zieht.
Frau Breymaier, die aktuellen Umfragen können Ihnen keinen Mut machen. Sind die Wahlen für die SPD bereits verloren?
Schauen Sie auf die vergangenen Wahlen: In Rheinland-Pfalz galt Julia Klöckner (CDU) bereits als neue Ministerpräsidentin, keiner hat mehr einen Cent auf Malu Dreyer (SPD) gesetzt. Heute ist Dreyer wieder Ministerpräsidentin. Und auch Wahlen, die wir verloren haben, wurden in den letzten 14 Tagen entschieden – auch bei vergangenen Bundestagswahlen oder der Abstimmung in Schleswig-Holstein. Wir haben noch dreieinhalb Wochen – und die werden jetzt genutzt.
Wie viel Prozent wollen Sie in Baden-Württemberg erreichen?
Mein Ziel ist schon, das Ergebnis der letzten Bundestagswahlen zu erreichen. Damals lagen wir bei 23,7 Prozent. Wir müssen aber berücksichtigen, wo wir herkommen. Im vergangenen Jahr mussten wir bei den Landtagswahlen eine dramatische Niederlage hinnehmen, haben nur noch knapp 13 Prozent der Stimmen bekommen und sind lediglich als viertstärkste Kraft ins Parlament eingezogen. Wir wollen bei der Bundestagswahl im Land klar als zweitstärkste Kraft hervorgehen und möglichst den Abstand zum Bundestrend verringern. Hier lagen wir in den vergangenen Jahren rund fünf Prozent darunter. Mehr als zwanzig SPD-Abgeordnete aus Baden-Württemberg sind drin – und ein, zwei Direktmandate auch. Die SPD BadenWürttemberg muss auch einen ordentlichen Anteil zum Bundesergebnis liefern. Wie wichtig das Land ist, zeigen die vielen Auftritte von Martin Schulz bei uns.
Aber der Schulz-Hype vom Jahresanfang hat sich doch auch abgenutzt ...
Aber in dieser Zeit hat man auch gesehen, dass die SPD ohne Weiteres zehn Prozent mehr wert sein kann. Da hat man auch eine Merkel-Müdigkeit gespürt – und diese ist doch nicht auf einmal verschwunden. Wir hauns ben einen Kandidaten, hinter dem die Partei so geschlossen steht wie seit Langem hinter keinem anderen. Und wir haben ein Programm, das zum Land und seinen Herausforderungen passt. Ich kann das sehr gut mittragen. Wir sprechen über Themen, die die Menschen bewegen, etwa über die Rente.
Wenn die Generation der heute 40-Jährigen in Rente geht, kommen auf einen Rentner nur noch 1,7 Erwerbstätige. Heute liegt das Verhältnis noch bei etwa 1:3. Wer soll für diese Menschen die Rente erarbeiten, damit sie mit 67 in Ruhestand gehen können – eine höhere Altersgrenze will Ihre Partei ja nicht. Wer bezahlt das?
Vor 100 Jahren haben 70 Menschen noch einen Rentner ernährt – und die demografische Entwicklung haben wir trotzdem bewältigt. Wir haben dafür alles getan. Wir haben das Abitur nach acht Jahren, also G 8, eingeführt und das Hochschulstudium reformiert, damit junge Menschen früher ins Arbeitsleben kommen. Der Wehrdienst wurde ausgesetzt. Und, ganz wichtig: Heute sind viel mehr Frauen als früher erwerbstätig. Es nützt nichts, nur auf die Köpfe zu starren und zu fragen, wie viele Alte und Junge es gibt. Die entscheidende Frage ist: Wie viele sind erwerbstätig und was verdienen die. Denn nur mit Mindestlohn finanziere ich kein Rentensystem. Ich sage: Wir kriegen das hin.
Zum Beispiel, in dem mehr Menschen privat vorsorgen?
Darauf setzen ja alle Demografie-Fetischisten. Nur: Wenn Menschen alt sind und privat vorgesorgt haben, dann muss auch dieses Geld von den Jüngeren erarbeitet werden. Das hat doch die Finanzkrise gelehrt: Kapitalgedeckte Vorsorge ist nicht demografiefester als gesetzliche. Deshalb bin ich leidenschaftlich unterwegs für Erhalt und Stärkung der gesetzlichen Rente. Denn schon jetzt sind Rentenkürzungen beschlossen – und diese müssen zurückgenommen werden.
Ist die SPD gerade in Baden-Württemberg nicht zu ideologiegetrieben, wenn sie sich jetzt von der Zeit der Hartz-IV-Reformen unter Gerhard Schröder distanziert? Damals waren die Wahlergebnisse für die Sozialdemokraten wesentlich besser.
Wir leben ja nicht auf einem anderen Stern, sondern sind Teil dieser Gesellschaft. In der Zeit der Schröder-Kanzlerschaft war der Neoliberalismus auf dem Siegeszug. Sätze wie „Sozial ist, was Arbeit schafft“wurden gar nicht hinterfragt. Nach dem Ende der DDR und dem Zerfall der Sowjetunion hatte es der Kapitalismus nicht nötig zu beweisen, dass er automatisch besser mit Menschen umgeht als der Sozialismus. Sprich: Schröder und die SPD haben damals umgesetzt, was gefragt war. Heute, mehr als zehn Jahre später, müssen wir feststellen: Die Versprechungen der Agenda 2010 wurden nicht komplett eingelöst. Niedrige Löhne haben keine Arbeitsplätze geschaffen, sondern nur mehr Armut. Zum Beispiel mit dem Mindestlohn sind ja Korrekturen erfolgt. Das ist auch der Job der SPD.
Aber wir haben doch heute so viele sozialversicherungspflichtige Jobs wie nie zuvor. Gerade in einem reichen Land wie Baden-Württemberg. Sind das wirklich die Themen, die ziehen?
Wir erleben einen Wohlfühlwahlkampf, nach dem Motto: Wir spielen auf Halten. Alles ist gut und wir sind froh, wenn es nicht schlechter wird. Ich finde es großartig, was wir zusammen in diesem Land erreicht haben. In anderen EU-Staaten sind Gesundheitsund Rentensystem heruntergewirtschaftet, die Rechtspopulisten viel stärker. Darauf können wir in Deutschland stolz sein. Aber es reicht doch nicht zu sagen, es geht uns allen gut. Denn es gibt auch in diesem Land Menschen, denen es eben nicht gut geht. Sie sind erwerbslos, beziehen nur elendigen Lohn oder haben befristete Arbeitsverträge. Diese Menschen haben Sorgen. Und viele trauen sich nicht einmal, das offen zu sagen – weil es ja angeblich allen gut geht.
Aber die SPD regiert ja seit Jahren mit ...
Das stimmt. Aber unsere Minister sind doch die Leistungsträger dieser Regierung. Die CDU kennt als Ziel eigentlich nur die schwarze Null beim Haushalt. Andrea Nahles ist seit vier Jahren als Arbeits- und Sozialministerin im Amt. Sie hat unglaublich viel bewegt. Als erste Arbeitsministerin seit Jahrzehnten hat sie keine Verschlechterungen bei der Rente vorgenommen – im Gegenteil. Und sie hat sich endlich angemessen mit dem Thema Digitalisierung der Arbeitswelt beschäftigt. Einige Dinge hat sie auch nicht hinbekommen, aber das lag am Koalitionspartner CDU: Wir hätten gerne die Lebensleistungsrente eingeführt und ein Rückkehrrecht auf Vollzeit. Da machen wir einen sehr guten Job – wenn man bedenkt, dass wir der deutlich kleinere Partner in dieser Regierung sind.
Dann ist die logische Schussfolgerung: Die SPD strebt wieder eine Zusammenarbeit mit der CDU an. Da lässt sich ja offenbar viel erreichen.
Nein, denn die CDU ist doch eine ideologisch bräsige Partei. Mit denen bekommen wir keine wirklich zukunftsweisenden Dinge hin. Eine Bürgerversicherung, die die Mehrheit der Menschen will – mit der CDU nicht zu machen. Lebensleistungsrente – mit der CDU nicht zu machen. Europa – da kann Martin Schulz die Fenster aufmachen und klare Ansagen machen für die gemeinsame solidarische Zukunft dieses Kontinents.
Mit wem soll das klappen?
Wir sind zugegebenermaßen in einer schwierigen strategischen Lage. Viele unserer Mitglieder sind gegen eine erneute Große Koalition mit der CDU, viele andere gegen eine Zusammenarbeit mit der Linken. Ich persönlich glaube, mit Grünen und Linken können wir große Projekte anpacken. Und es würde die Nato trotzdem noch geben. Aber am Ende müssen wir für unsere Inhalte streiten und sehen, mit wem wir am meisten davon umsetzen können.
Was halten Sie von einer Ampel?
Nicht mein Traum. Aber ausschließen kann niemand etwas. Ich habe nie verstanden, warum die FDP im Land eine solche Koalition nach den Landtagswahlen ausgeschlossen hat.