Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Wer nicht schreibt, bleibt dumm
Pädagogin beklagt die Abkehr vom Handschreiben
Viele Schüler haben Probleme mit der Handschrift, Erwachsene tippen meist auf Computertastaturen. Doch Pädagogen warnen vor einem Ende des Handschreibens. „Wer nicht schreibt, bleibt dumm“– wenn es um den Erhalt der Handschrift geht, wird die Lehrerin Maria-Anna Schulze Brüning aus Hamm deutlich. Mit dem Journalisten Stephan Clauss hat sie im PiperVerlag eine gleichnamige Streitschrift gegen feinmotorische Verarmung veröffentlicht. In der Tageszeitung „Die Welt“beklagte die Lehrerin für Kunst und Französisch unlängst ein ihrer Ansicht nach katastrophales Versäumnis der Bildungspolitik. Der Abschied vom Handschreiben – für sie ist das ein Desaster.
Verbirgt sich dahinter Nostalgie oder Bildungsromantik? „Die Handschrift ist ein Denkwerkzeug“, argumentiert Schulze Brüning. Auch die Graphologin Rosemarie Gosemärker betont: „Das mit der Hand Geschriebene wird stärker im Gehirn verankert, so dass die Erinnerungsleistung besser ist.“Das Schreiben sorge für eine ganzheitliche Aktivierung des Gehirns. „Handschrift ist Hirnschrift.“
Viele Schüler haben Probleme
Für Christian Marquardt vom Schreibmotorik-Institut im fränkischen Heroldsberg ist das Handschreiben die perfekte Methode, Sachverhalte und Ideen zu strukturieren und Dinge persönlich zu gestalten. „Ich benötige dazu kein elektronisches Gerät, muss es nicht anschalten oder den Akku laden.“
Glaubt man Bildungsexperten und dem Bundeselternrat, stellt das Schreiben mit der Hand im Zeitalter von Computer und Tablet immer mehr Kinder vor große Probleme. Nach einer 2015 veröffentlichten Studie des Deutschen Lehrerverbandes haben 51 Prozent der Jungen und 31 Prozent der Mädchen Probleme beim Handschreiben. Sie schreiben verkrampft, unleserlich, zu langsam und ermüden schnell. Auch 79 Prozent der an der Erhebung beteiligten Lehrer an weiterführenden Schulen erklärten, die Handschrift ihrer Schüler habe sich im Schnitt verschlechtert.
Früher lernten Grundschüler eine schöne Handschrift mit viel Drill und Druck. Noch vor den ersten Leseübungen wurden Tafeln und Hefte seitenweise mit geschwungenen Buchstaben gefüllt. Heute lernen Kinder in Deutschland gleichzeitig lesen und schreiben – und zwar zuerst mit Druckbuchstaben. Erst dann üben sie Schreibschrift. Das führt dazu, dass die meisten bei der im Alltag gängigeren Druckschrift bleiben. Die Mehrheit der deutschen Schüler kann nicht flüssig schreiben.
Andere Länder ziehen daraus Konsequenzen: Finnische Schüler müssen seit 2016 keine gebundene Schreibschrift mehr lernen; in den Schulen dort wird nur Druckschrift und Tastaturschreiben gelehrt. Auch in den USA ist es weitgehend so.
Die meisten Eltern in Deutschland wollen das offenbar nicht. In einer 2016 auf der Bildungsmesse Didacta vorgestellten Umfrage des Instituts für Schreibmotorik halten mehr als 96 Prozent der Eltern das Schreiben mit der Hand noch für wichtig, fast zwei Drittel davon sogar für sehr wichtig.
Die Handschrift auf der Roten Liste für bedrohte Arten? Didacta Verband und das Schreibmotorik-Institut haben im vergangenen Jahr zusammen mit dem Bundeselternrat die „Aktion Handschreiben 2020“ins Leben gerufen. Ihr Ziel: Die Forschungen zum Handschreiben sollen verbessert und die Erkenntnisse in der Lehrerbildung besser verankert werden. Bis 2020 soll ein flächendeckendes Programm zur Förderung des Handschreibens in Kitas und Schulen entwickelt werden.
Übung macht den Meister
Auch Schulze Brüning plädiert für eine systematische Anleitung der Kinder von Anfang an. Notwendig seien viel Training und ausreichend Zeit. „Bei der Schreibschrift muss man sich entscheiden. Wenn man sie beibehalten will, muss sie auf Platz eins rücken“, sagte sie der „Welt“. Dass Kinder heutzutage nicht mehr über ausreichende feinmotorische Fähigkeiten verfügen, will sie nicht akzeptieren. Wer Kinder im Umgang mit Handy, Computer oder Playstation beobachte, müsse vom Gegenteil überzeugt sein.
Marquardt warnt dagegen vor zu viel Druck und zu starker Betonung von Form und Genauigkeit. Das widerspreche den Prinzipien des motorischen Lernens, denn „zu Beginn können Bewegungen nicht exakt ausgeführt werden. Auch Kinder, die Laufen lernen, werden am Anfang oft hinfallen“.
Stephan Clauss und Maria-Anna Schulze Brüning: Wer nicht schreibt, bleibt dumm – Warum unsere Kinder ohne Handschrift das Denken verlernen, PiperVerlag, München 2017, 22 Euro.