Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Die Buchstaben der Vergangenheit
Bis in die 1940er-Jahre wurde die Sütterlinschrift unterrichtet – In Ravensburg lagern geschriebene Schätze
RAVENSBURG - Manfred Till aus Ravensburg ist 82 Jahre alt. Im Jahr 1940 kam er in die Schule. Zwei Jahre lang hat er die Sütterlinschrift gelernt, die deutsche Schreibschrift. Wie viele Männer und Frauen seiner Generation verbindet Manfred Till die Sütterlinschrift mit Erinnerungen an frühere Tage – mit Briefen, Tagebucheinträgen und offiziellen Dokumenten.
„Die Sütterlinschreibweise war der Nachfolger der Kurrentschrift“, erklärt Manfred Till, Leiter der Ravensburger Schreibwerkstatt. „Sie ging flotter von der Hand, war lesbarer und weniger verschnörkelt und die Ober- und Unterlängen der Buchstaben grenzten sich deutlicher voneinander ab.“
Erfunden wurde die Sütterlinschrift von ihrem Namensgeber Ludwig Sütterlin. Dieser hatte im Jahr 1911 vom preußischen Kultur- und Schulministerium den Auftrag bekommen, eine Schreibschrift für die Schule zu entwickeln. „Der Hintergrund war, dass mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht die Schrift vereinfacht werden musste“, sagt der Ravensburger Manfred Till. „Davor waren die Schreiber Profis.“
Zum Schreibunterricht gehörte damals auch, schön zu schreiben. Sudeln war nicht. „Schönschreiben gab es sogar als Fach“, berichtet Till. Und in der Tat sind die in Sütterlin verfassten Schriftstücke wahre Kunstwerke. „Da steckt Persönlichkeit dahinter“, so Till.
Der 82-Jährige kann alte Schriften lesen und schreiben. Wer mit alten Dokumenten oder Briefen zu ihm kommt, dem hilft Till dabei, sie zu transkribieren, also sie zu „übersetzen“. Allerdings macht er es den Leuten nicht ganz leicht: „Ich bringe ihnen zuerst die Grundkenntnisse der Schrift bei und lasse sie selbst ein bisschen üben“, meint der einstige Berufsschullehrer. Denn so würden seine Schüler schnell die Eigenheiten der Schrift erfassen und könnten sie dann größtenteils selbst entziffern. Wenn es hakt, hilft Till aber gerne weiter. Er sagt über sich: „Ich bin kein Schriftkünstler, aber ein Schriftsachkundiger.“
Archivare als Spezialisten
Wer sich mit alten Schriften ebenfalls auskennt, ist der Ravensburger Stadtarchivar Andreas Schmauder. Wie er sagt, lagern im Stadtarchiv 1,3 laufende Kilometer an Dokumenten aus insgesamt acht Jahrhunderten. Mit den Beständen könnte man quasi die Strecke vom Untertor zur Oberschwabenhalle pflastern. „Alle Schriften sind hier vertreten – auch die Sütterlinschrift“, erläutert Schmauder.
Ihm zufolge würden pro Jahr über 1000 Menschen ins Stadtarchiv kommen, um die dortigen Fotos, Zeitungsbände und Originale einzusehen und um Ahnenforschung zu betreiben. „Für viele ist es ein Hemmnis, sich in die unbekannten Schriften zu vertiefen“, meint Schmauder. Die Aufgabe seiner Zunft sei es daher, dass die Kenntnisse über die Schreibweisen nicht verloren gehen. „Die Archivare sind die Spezialisten auf diesem Gebiet“, so der Ravensburger Beamte.
Das Besondere an den alten Schriften ist für den Stadtarchivar, dass „unsere Kulturgeschichte bis ins 20. Jahrhundert hinein in diesen alten Schriften verfasst ist“. Dazu zählen Protokolle aus früheren Gemeinderatssitzungen ebenso wie erhaltene Klassenbücher, Feldpostbriefe, Stammbücher oder Melderegister. „Man braucht Biss und Übung, um sich da hineinzufinden“, sagt Schmauder. „Aber nach und nach ergeben die Buchstaben einen Sinn und eröffnen ganz neue Welten.“
Die nächste Schreibwerkstatt im Haus der Museumsgesellschaft Ravensburg, Humpisstraße 5, findet am Samstag, 14. Oktober, von 10 bis 13 Uhr statt. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich. Der Eintritt ist frei. ANZEIGE