Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Wenn der Koalitionspoker ewig dauert
208 Tage ohne Regierung: In den Niederlanden brechen die Parteien heute ihren eigenen Rekord im Suchen von Parlamentsmehrheiten
DEN HAAG (dpa) - Der Weg zu einem Jamaika-Bündnis in Berlin könnte lang werden. Doch die Niederländer können da nur lächeln: Fast sieben Monate nach der Wahl am 15. März haben sie noch immer keine neue Regierung. Vier Parteien verhandeln in Den Haag. Am heutigen Montag stellen sie den bisherigen Rekord von 208 Tagen aus dem Jahre 1977 ein.
Dem alten und wohl auch neuen Premier, Mark Rutte, ist das Lachen noch nicht vergangen. Ob er einen Tipp hat für seine Kollegin in Berlin, Kanzlerin Angela Merkel? „Die braucht keinen Rat“, sagt er der Deutschen Presse-Agentur. „Das kann sie ganz allein.“Rutte lacht, winkt und schreitet zügig über den Binnenhof. Das einstige Schloss der holländischen Grafen ist das Herz der Demokratie des Landes.
Rutte steht mit seiner rechtsliberalen VVD vor seiner dritten Amtsperiode. Nur ist es nicht so einfach, eine Koalition zu schmieden. Eingeweihte schätzen, dass die neue Ministerriege frühestens Ende Oktober steht. Lange Verhandlungen gehören zur politischen Kultur des Landes, im Schnitt dauert eine „formatie“(Regierungsbildung) 87 Tage. Doch diesmal ist alles komplizierter.
Kern-Trio stand schnell fest
13 Parteien zogen nach der Wahl in die Zweite Kammer ein. Die VVD von Rutte wurde zwar mit 33 der 150 Sitze erneut stärkste Kraft. Doch die Sozialdemokraten, ihr bisheriger Partner, erlebten ein Debakel und gingen in die Opposition.
Zweitstärkste Kraft mit 20 Sitzen ist die rechtspopulistische Partei für die Freiheit (PVV) von Geert Wilders. Doch mit ihr will keine andere Partei zusammenarbeiten. Für eine mehrheitsfähige Koalition sind daher mindestens vier Parteien notwendig.
Ein Kern-Trio stand schnell fest: Ruttes VVD, die christdemokratische CDA und die linksliberale D66. Zunächst scheiterten Gespräche mit den Grünen. Und nun sitzt die kleine christliche Partei ChristenUnie mit am Verhandlungstisch. Aber auch das scheint nicht einfach zu sein.
„Die Ideale prallen aufeinander“, seufzte unlängst der Fraktionsvorsitzende der ChristenUnie, Gert-Jan Segers. In der feinen Stadhouderskamer, dem einstigen Empfangssaal des Oranien-Fürsten Willem V., könnten also die Fetzen fliegen. Das erfährt aber keiner. Und auf ihrem täglichen Gang zu den Gesprächen präsentieren sich die Unterhändler immer sehr einträchtig: Vier Herren, alle um die 50 Jahre alt, meist in blauen Anzügen, schreiten anscheinend frohen Mutes und mit Akten unterm Arm über den Platz, scherzen mit den wartenden Reportern und sind immer gerne bereit, mit Touristen für ein Selfie zu posieren.
Nur selten dringt aus den dicken Mauern ein Verhandlungsergebnis nach draußen. Kürzlich war es mal soweit: Alle Schulkinder müssen künftig die Nationalhymne auswendig lernen und sich im Amsterdamer Reichsmuseum Rembrandts „Nachtwache“ansehen, hieß es.
Bei dem Tempo könnte selbst der Weltrekord in Sachen Regierungsbildung, gehalten von Belgien mit 541 Tagen, eingestellt werden, lästern Kommentatoren und Opposition. Soweit wird es wohl nicht kommen. Doch nach der Bundestagswahl nimmt der Druck auf Den Haag zu: Es wäre extrem peinlich, wenn Merkel bei der Regierungsbildung ihren Kollegen Rutte überholen würde.