Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Warten auf das Wild
Die Jägerei ist umstritten – Für die Kulturlandschaft in Mitteleuropa scheint sie unerlässlich
Ein ausgedehntes Gähnen! Müde geht es an einem kalten Herbstmorgen vom Hochsitz durch den Tettnanger Forst zurück in Richtung Auto. Längst ist es hell geworden. Stundenlang hat sich kein Wild sehen lassen. Die Büchse hängt ungenutzt an der Schulter. Nun lockt nur noch das Frühstück im trauten Heim. Routinemäßig schweift aber der Blick zwischen Fichten hindurch – und bleibt hängen. Im Buschwerk unter den Nadelbäumen ist etwas Gräulich-Braunes. Es bewegt sich. Ein Reh in der Winterdecke, dem Fell für die kalte Jahreszeit. Die morgendliche Jagd wird nochmals spannend.
Üblicherweise fängt sie an, wenn das Gros der Bevölkerung noch in einer Tiefschlafphase liegt: zu finsterer Nacht, um beim ersten Büchsenlicht in Position zu sein. Zugegeben, das Aufstehen fällt schwer. Aber ein innerer Drang lässt einen nicht ruhen. Jägerei kann zur Leidenschaft werden. Knapp 400 000 Deutsche frönen ihr offiziell – Bauern, Unternehmer, Handwerker, Angestellte, also eine bunt gemischte Gruppe.
Zauber des frühen Morgens
Bevorzugter Ort ist der Wald oder dessen Trauf. Selbst Spaziergängern dürfte dies auffallen, weil sie dort die meisten Hochsitze sehen. Waidmänner sind meist am Anfang oder Ende eines Tages unterwegs – zumindest, wenn es ihnen um Rehwild geht. Zu beiden Zeiten ist es rege. Die Wahl ist in diesem Fall aber auf den Morgen gefallen. Er hat etwas, ihm wohnt einfach ein Zauber inne.
Die kurze Autofahrt ins Revier geht über leere Straßen im Bodenseehinterland bei Tettnang. Mondlicht schimmert durch die Wolken. Am Waldweg wird geparkt. Ein Griff zu Gewehr und Rucksack – dann geht es mit vorsichtigen, tastenden Schritten durch die Dunkelheit Richtung Hochsitz. Geräusche des Waldes umgeben einen: das ferne Knacken von Ästen, Knistern im Laub, ein Blätterrauschen, als Wind aufkommt, der fast markerschütternde Schrei des Steinkauzes. Vielleicht galt er deshalb bei den Altvorderen als Todesbote.
Endlich der Hochsitz. Hinaufklettern, oben bereitmachen, Patronen ins Gewehr fingern. Dann heißt es warten. Eine ganze dunkle Stunde dauert es allein bis zum ersten Büchsenlicht. Viel Zeit zum Sinnieren, zum In-sich-gehen in der Einsamkeit. Wieder schreit ein Kauz, der Todesbote. Ein solcher ist ein Jäger irgendwie auch, kommt es einem womöglich in den Sinn. Schließlich lauert er ja auf Wild.
Die Gedanken können bei einem solchen Ansitz weit wandern. Weshalb hockt man hier mit dem Gewehr? Urtümlicher Jagdinstinkt? Aber so richtig will sicher keiner als Steinzeitmensch gelten – zumal die Jägerprüfung einem solchen Eindruck entgegensteht. Vor allem in Süddeutschland bedeutet sie nach wie vor eine gewaltige Büffelei. Wildtierkunde ebenso wie die Ballistik von Waffen, Jagdrecht, Schießen, das Bestimmen von Bäumen und Pflanzen, Fleischhygiene, Hochsitzbau und so weiter.
Vermutlich steckt eine ganze Reihe von Beweggründen dahinter – etwa die Suche nach etwas Natürlichem in unserer hoch technologisierten Welt. Durch Wald und Wiesen streifen. Nach dem Wild schauen. Anpacken, wenn ein Hochsitz zusammenzunageln ist. Fleisch erbeuten. Vor allem manche Städter scheinen zu glauben, das Filetstück
wachse im Supermarkt. Der Jäger holt es sich selber – und dies abseits aller Massentierhaltung.
Während die Gedanken in die eine oder andere Richtung gehen, taucht zwischen den Baumkronen im Osten ein erster Lichtschimmer auf. Gemächlich kommt der Tag. An Blättern und Gräsern hängen Tautropfen. Die Natur sieht morgens herrlich frisch aus. Vögel zwitschern. Eichhörnchen springen. Ein Fuchs lässt sich sehen – jedoch kein Reh, geschweige denn eine Wildsau. Der Blick durchs Fernglas bringt auch keine weiteren Erkenntnisse. Warten. Die Zeit wird lang, die morgendliche Frische kriecht durch die Kleidung. Wo bleibt das Wild? Wo könnte sich die Chance zum Schuss bieten?
Jagdgegnern ist hingegen das Erlegen von Wild ein Graus. Immer wieder heißt es aus ihren Reihen: Jagd sei unnötig, die Natur regele sich selber. Das mag sein - wenigstens dort, wo es noch echte weitläufige Natur gibt – eventuell am oberen Amazonas oder weitab in Kamtschatka.
In Mitteleuropa sieht es anders aus. Die Kulturlandschaft braucht offenbar die Jagd. Erst jüngst hat Baden-Württembergs Forstminister Peter Hauk der Jägerschaft signalisiert, dass sie Gewehr bei Fuß stehen soll. Der Grund: Wildsauen bringen von Osten her die Afrikanische Schweinepest Richtung Deutschland. Das Ausbreiten der Seuche hätte bei uns katastrophale Folgen für die Schweinehaltung der Bauern.
Milliardenschäden drohen. Auch ohne Pest sind Wildsauen ein heikles Thema, sollten zu viele davon unterwegs sein. Sie graben auf Nahrungssuche Wiesen um, verwüsten Maisfelder. Kaum vorstellbar, dass etwa Wolfsrudel im dicht besiedelten Bodenseeraum oder im engen Oberschwaben heimisch werden und das Problem lösen könnten.
Natürliche Feinde fehlen
Beim Rehwild ist es letztlich nicht anders. Natürliche Feinde fehlen. Warme Winter und genug Äsungsmöglichkeiten tun den Beständen gut – wiederum zum Ärger von Waldbesitzern oder Förstern. Rehe verbeißen junge Bäume, die Böcke verfegen an ihnen ihr Geweih. Wald in Gefahr heißt es immer mal wieder. Selbst sonst eher jagdferne Ökoverbände wie Nabu oder BUND rufen dann nach dem Waidmann. Rasch soll er den Abschuss erledigen.
Um solchen Forderungen nachzukommen, müsste nun endlich Wild vorbeikommen. Doch die Minuten auf dem Hochsitz verrinnen ereignislos, werden zu Stunden. Der Zeitaufwand der Jäger ist enorm. Einen Dank gibt es selten. Es sei ja ihr selbstgewähltes Tun, wird ihnen entgegengehalten. Dabei leiden sie darunter, dass ihr Image bescheiden geworden ist. Wem fällt mit Blick aufs Waidwerk noch ein strahlender Jäger von Fall ein wie im gleichnamigen Heimatfilm? Viel öfter gibt es Zerrbilder in den Köpfen der Leute: etwa Jäger als ältliche, beleibte Herren in dicken Geländewagen. Ärgerlich, denkt man sich – vor allem, wenn weder der eigene Körper noch das Auto noch der Kreis der Jagdkameraden diesem Klischee entsprechen.
Irgendwann streifen Sonnenstrahlen über die Baumwipfel. Wieder ein Griff zum Fernglas. Genug Gedanken gewälzt. Der Blick in die Runde ergibt aber zum x-ten Mal nichts. Es reicht. Feierabend. Munition aus dem Gewehr nehmen, runter vom Hochsitz. Aber dann ist beim Rückweg doch noch dieses Reh aufgetaucht. Es sorgt für einen Adrenalinschub. Kein Gähnen mehr. Nochmals laden. Durchs Zielfernrohr ist das Tier scharf zu sehen. Ungeschickterweise geht der Wind in seine Richtung. Das Reh wittert den Jäger – weg ist es. Später wird daheim das Erlebte rasch erzählt. Wobei Frau und Kindern der ergebnislose Ausgang der Jagd gefällt. Einem selber bleibt nur ein leichtes Murren übrig.
Wie eine Jagdwaffe entsteht, sehen Sie im Video: