Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Auf der Suche nach der eigenen Vergangenheit
„Die kanadische Reise“: Einfühlsame Studie einer besonderen Freundschaft
Der 33-jährige Franzose Mathieu erfährt vom Tod seines Vaters, den er nie kennengelernt hat. Neugierig geworden entschließt er sich zu einer Reise nach Kanada, wo er zusammen mit einem Freund seines Vaters einem Familiengeheimnis auf die Spur kommt.
Ein kleinformatiges Porträt ist das Einzige, was der Vater seinem unbekannten Sohn vererbt hat. Der Junge auf dem Gemälde ist namenlos, genauso anonym wie der Maler des Porträts, das auf dem Kunstmarkt dennoch einiges wert wäre.
Mathieu erfährt erst mit Anfang 30 Details über die Umstände seiner Geburt. Seine verstorbene Mutter hatte ihm nur Unverbindliches über eine Liebesnacht mit einem Fremden erzählt. Nun erfährt er, dass sein jüngst verstorbener Vater ein angesehener Arzt in Montreal namens Jean war. Mathieus Reise in die Vergangenheit gibt dem Film des französischen Regisseurs Philippe Lioret seine Struktur.
Am Anfang steht die mit wohlgesetzten Strichen knapp skizzierte Figur von Mathieu, für den der Ortswechsel ein willkommener Einschnitt in sein unbefriedigendes Leben ist. Anstatt seine Schriftstellerträume umzusetzen, hängt er in einem öden Büro fest, seine Frau hat sich von ihm getrennt, für den gemeinsamen Sohn bleibt nie genug Zeit. Warum also nicht über die Begegnung mit der Familie seines Vaters das Leben noch einmal quasi neu beginnen?
Spezialist für leise Töne
Doch als Mathieu in Kanada eintrifft, ist sein Vater so wenig greifbar wie eh und je. Eine Leiche gibt es nicht, denn der herzkranke Jean soll bei einem Angelausflug an einem einsamen See einen Infarkt erlitten haben und aus dem Boot gefallen sein. Von einer Begegnung mit der trauernden Familie rät der verschlossene Pierre, der beste Freund des verstorbenen Vaters und Überbringer der Todesnachricht, dringend ab. Schließlich stimmt er zumindest einer verhüllten Kontaktaufnahme zu: Gemeinsam mit Jeans Söhnen wollen Pierre und Mathieu, der sich als ein „junger Freund aus Frankreich“vorstellt, rund um den See nach dem Körper des Toten suchen.
Die Brüder entpuppen sich als wenig sympathische Zeitgenossen, wie auch das Bild von Jean immer negativer wird, je mehr Einzelheiten Mathieu über ihn erfährt. Zugleich aber wächst die Vertrautheit des „verlorenen Sohns“mit Pierre, der die Enttäuschung des Jüngeren zu mildern versucht und dabei unbewusst durchblicken lässt, dass er Mathieu entscheidende Informationen vorenthält. Dieses Motiv des ungleichen Gespanns, das unter widrigen Umständen zur Freundschaft findet, hat Lioret schon in seinen früheren Filmen „Die Frau des Leuchtturmwärters“(2004) und „Welcome“(2009) eindrücklich durchgespielt. Dass ihm das wieder vortrefflich gelingt, verdankt er einem außerordentlichen Gespür für Details und scheinbar beiläufigen Sätzen mit tieferer Bedeutung.
Neben dem kanadischen Altstar Gabriel Arcand, der präzise vermittelt, wie Pierre sich mit seiner ungewollten Rolle als Geheimnisträger und Mentor arrangiert, erweist sich Pierre Deladonchamps nach seinem Kino-Durchbruch in „Der Fremde am See“erneut als aufmerksamer Spezialist für leise Töne. (KNA)
Die kanadische Reise. Regie: Philippe Lioret. Mit Gabriel Arcand und Pierre Deladonchamps. Frankreich/Kanada 2016. FSK ab 6.