Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Autositze werden intelligenter und rückenfreundlicher
Verlängerbare Sitzflächen, Höhenverstellung sowie eine Vier-Wege-Lordosenstütze gelten als besonders wichtig
BREMERVÖRDE (dpa) - Richtig sitzen – das ist vor allem auch im Auto wichtig für die Rückengesundheit. Immer mehr Hersteller bieten entsprechende Ergo-Sitze an. Im Zuge des automatisierten Fahrens sollen sie sogar intelligent werden.
Bei Ford in Köln arbeitet seit Kurzem ein Popo-Simulant: Ein Roboter in Form eines menschlichen Rumpfes nimmt wieder und wieder auf Autositzen Platz. Insgesamt 25 000-mal pro Sitz innerhalb von drei Wochen. So gewinnen die Ingenieure wichtige Erkenntnisse, wie sich ein Autositz in zehn Jahren Alltagseinsatz abnutzen würde. Keine unwichtigen Daten: Denn wie man im Auto sitzt, hat entscheidenden Einfluss auf die orthopädische Gesundheit des Fahrers.
Nicht fürs Sitzen geschaffen
Rückenleiden gelten als die Volkskrankheit Nummer eins, die Schätzungen zufolge rund drei Viertel der Bevölkerung zumindest zeitweise plagt. Oft oder gar ständig leidet – einer Bewegungsstudie der Techniker Krankenkasse von 2016 zufolge – in Deutschland jeder Dritte unter Rückenschmerzen. Ursache ist oft das viele Sitzen, für das der menschliche Bewegungsapparat nicht geschaffen ist – egal ob im Büro oder in Bus und Bahn oder dem Auto. „40 Prozent aller Autofahrer sitzen täglich mehr als anderthalb Stunden hinter dem Lenkrad“, sagt Tanja Cordes von der Aktion Gesunder Rücken (AGR) in Bremervörde.
Schmerzen, Verspannungen und Konzentrationsschwierigkeiten lassen oft nicht lange auf sich warten – wenn es ganz dumm läuft, kommt es zum Bandscheibenvorfall. „Nahezu ein Jahrhundert lang haben die herkömmlichen, meist sehr einfachen Autositze den Rücken teils aufs Äußerste strapaziert“, sagt Cordes. Das monotone Verharren auf einem herkömmlichen Autositz sei „pures Gift“für den Rücken.
Gütesiegel für Autositze
Der Verein AGR hat sich der Prävention und Behandlung von Rückenschmerzen verschrieben und vergibt seit 2003 auch Gütesiegel für Autositze. Um das Zertifikat zu erhalten, muss der Sitz unter anderem eine verlängerbare Sitzfläche, eine verstellbare Höhe und Neigung sowie eine Vier-Wege-Lordosenstütze haben. Wichtig sei auch eine feste Grundstruktur, die die natürliche Form der Wirbelsäule wiedergibt. Richtiges, ergonomisches Sitzen bedeute: „Nicht der Körper muss sich dem Sitz anpassen, sondern andersherum.“
Vorreiter Opel
Der erste AGR-zertifizierte Sitz wurde 2003 in den Opel Signum eingebaut. Mittlerweile können Kunden jede neue Modellreihe des Herstellers mit den knochenfreundlichen Sitzen bestellen. Gleiches gilt auch für alle Mercedes-Modelle. Wichtig in diesem Zusammenhang sind natürlich die Zulieferer, unter denen Adient im Sitzbereich einer der größten ist. „In Adients Entwicklungszentren spielt Ergonomie seit jeher eine wichtige Rolle“, sagt Sprecher Ingmar Remus. „Wir haben die Empfehlungen des Vereins Aktion Gesunder Rücken sowie diejenigen anderer Organisationen im Bereich Ergonomie bei der Sitzneuentwicklung stets im Hinterkopf.“
Im Opel Astra zum Beispiel kostet der AGR-Fahrersitz 390 Euro Aufpreis, 295 Euro fallen an, wenn auch der Beifahrer ergonomisch sitzen soll. „AGR-Sitze eignen sich besonders gut für Langstrecken“, sagt Opel-Sprecher Alexander Bazio. Er räumt aber auch ein, dass das Label ein gutes Marketinginstrument sei. Die AGR-Sitze seien nachgefragt, während man in den herkömmlichen Sitzen ebenfalls schon sehr bequem unterwegs sei. Peugeot oder DS mit dem neuen SUV DS 7 springen inzwischen ebenfalls auf den Zug auf. Im noblen Maybach können sogar schon die Fondpassagiere AGR-gerecht reisen. Volkswagen bietet neben Pkw auch Nutzfahrzeuge mit Ortho-Sitzen an. Die Modelle Amarok und Crafter lassen sich mit „Ergo Comfort-Sitzen“bestücken.
Individuelle Einstellung
Aber es ist nicht damit getan, sich einfach nur in den Sitz fallen zu lassen. „Wichtig ist vor allem, dass ein Autositz individuell eingestellt wird“, sagt Cordes. Zunächst müsse man mit dem Gesäß bis an die Sitzlehne rutschen, die der Fahrer auch beim Lenken mit den Schultern idealerweise immer berührt. Der Sitz werde dann so eingestellt, dass die Beine bei durchgetretenen Pedalen sowie die Arme bei umfasstem Lenkrad leicht angewinkelt sind.
Der Stütze der Lendenwirbelsäule kommt eine besonders wichtige Funktion zu, sagt Remus. Autoinsassen sollten sie in Höhe der Gürtellinie justieren. Nach dem Einstellen der Sitzflächenneigung sollten die Oberschenkel locker aufliegen. Bei der Sitzflächenlänge gilt: Zwischen Kniekehle und Sitzvorderkante sollte noch zwei bis drei Finger breit Platz bleiben. Um bei Unfällen Kopfund Halswirbelsäulenverletzungen vorzubeugen, schließt die Oberkante der Kopfstütze am besten mit dem Kopf ab, empfiehlt Cordes.
Zur Kür eines guten Autositzes gehören schließlich Komfortmerkmale wie Sitzheizung und -ventilation, einstellbare Seitenwangen, Massagefunktionen oder Sitzdynamiksysteme mit aufblasbaren Kissen, die etwa in Kurven Zentrifugalkräfte kompensieren und den Körper der Insassen stabilisieren. Eine solche Funktion bietet beispielsweise Mercedes an.
Gestühl misst Herzrhythmus
Noch nicht im Alltagsauto angekommen sind dagegen Sitze, die sich nicht nur um die orthopädische Gesundheit kümmern, sondern medizinische Parameter messen. So stellte Faurecia, einer der größten Autozulieferer, auf der IAA 2017 die jüngste Fortentwicklung des Autositzes „Active Wellness“vor. Im Zuge der Automatisierung des Fahrens sollen mit Technik vollgepackte Sitze Daten des Fahrers sammeln und auswerten – beispielsweise den Herzrhythmus und die Atemfrequenz. Wird auf diese Weise Stress diagnostiziert, wird die Massagefunktion aktiviert oder die Sitzbelüftung. In der jüngsten Entwicklungsstufe kann der Faurecia-Sitz einschätzen, ob der Fahrer bei Müdigkeit oder Stress nicht vielleicht sicherer im autonomen Fahrmodus reist.
Während solche Sitze noch nicht auf der Straße angekommen sind, können Autofahrer Ergo-Sitze in ihrem Intelligent: Künftig sollen Sitze – wie dieser vom Zulieferer Faurecia – Biodaten des Fahrers sammeln und etwa bei Stress die Massagefunktion oder die Sitzbelüftung aktivieren.
Gebrauchten nachrüsten. Der eher für Sportsitze und Rennschalen bekannte Hersteller Recaro beispielsweise hat auch für Rückenleidende Modelle wie den „Orthopäd“(ab 2015 Euro, mit Sitzklimatisierung) oder den „Ergomed E“(ab 1490 Euro, wahlweise mit Seitenairbag) im Programm. Bevor man das alte Gestühl aber rausreißt, prüfen Autofahrer besser, ob der Nachrüstsitz mit dem eigenen Auto kompatibel
ist. Recaro rät vorab zudem zur Sitzprobe.
Anders als im Büro, wo man sich auch sitzend zur Auflockerung wenigstens mal drehen und die Schultern kreisen lassen kann, hockt man im Auto oft über Stunden meist starr und unbewegt. AGR-Expertin Cordes rät deshalb – trotz aller Technik – zu regelmäßigen Pausen während der Fahrt mit Gymnastik auf dem Parkplatz.