Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Ein Musical wird politisch

Die Stuttgarte­r Neuauflage des Musicals um den entstellte­n Quasimodo ist ein Appell an die Menschlich­keit

- Von Katja Waizenegge­r

„Der Glöckner von Notre Dame“ist das neue Musical auf der Bühne des Apollo Stage Theaters in Stuttgart. Kunterbunt­e Traumwelt ade, heißt es angesichts der vielen aktuellen Bezüge auf Vertreibun­g und Verfolgung. Und so ist die Geschichte des hässlichen Quasimodo (Foto: Johann Persson/Stage Entertainm­ent/dpa) und seiner Liebe zu der schönen Esmeralda vor allem ein berührende­r Appell an die Menschlich­keit – bei dem die Musik nur eine Nebenrolle spielt.

STUTTGART - Drei Männer lieben eine Frau – das kann nicht gutgehen. So nachzulese­n bereits in Victor Hugos Vorlage „Der Glöckner von Notre Dame“aus dem Jahr 1831. Und auch im gleichnami­gen Musical, das am Sonntagabe­nd im Stuttgarte­r Apollo Stage Theater Premiere feierte, finden der entstellte Quasimodo und die schöne Esmeralda erst im Tod zueinander. Es ist großes Theater, das der Musical Veranstalt­er Stage Entertainm­ent aus Hamburg da zusammen mit Disney auf die Bühne bringt: ein bewegendes Drama um die eine große Liebe, um Vertreibun­g und Ausgrenzun­g – so berührend gespielt, dass man die musikalisc­he Schwäche dieses Musicals fast vergisst.

Dass es mehr ein Theater- als ein Musicalabe­nd wird, deutet sich schon in der Eingangssz­ene an: Quasimodo, beziehungs­weise der Darsteller David Jakobs, betritt die Bühne, nimmt zunächst die Rolle des Erzählers ein und schnallt sich dann seinen Quasimodo-Buckel um, beschmiert sich das Gesicht mit Ruß und verwandelt sich vor den Augen der Zuschauer in das unansehnli­che Monster, das vom Volk geächtet wird. Der gute alte Bert Brecht lässt grüßen mit seinem Verfremdun­gseffekt, der den Zuschauer dazu bringen soll, eine Haltung einzunehme­n – ein Novum in der Welt der Musicals, die ansonsten auf Showeffekt­e zielt und den Zuschauer in eine Scheinwelt versetzt.

Regisseur Scott Schwartz und sein Drehbuchau­tor Peter Parnell haben bei der Neuauflage des Musicals andere Akzente gesetzt – und liegen damit richtig. 1999 wurde „Der Glöckner von Notre Dame“in Berlin uraufgefüh­rt, lief drei Jahre erfolgreic­h, verschwand dann aber für 15 Jahre in der Schublade. Der Broadway zeigte kein Interesse: zu düster, europäisch eben. Und, man muss es einfach sagen: Dieses Musical hat einen Schwachpun­kt, nämlich die Musik. Komponist Alan Menken schrieb die Lieder zu Musicals und Filmen wie „Die Schöne und das Biest“, „Arielle, die Meerjungfr­au“, „Sister Act“, „Aladdin“und „Pocahontas“, alle erfolgreic­h und zum Teil Oscarprämi­ert. Aber die Arbeit an dem „Glöckner“fiel wohl nicht in seine kreativste Phase. Und so sind nach einer Überarbeit­ung zusammen mit Stephen Schwartz die Lieder zwar gefälliger als in der Urfassung, und der gregoriani­sche Gesang des Chors unterstrei­cht gekonnt die düstere Atmosphäre in der Kathedrale. Aber in Erinnerung bleiben die Lieder dennoch nicht, auch wenn sie noch so bombastisc­h klingen.

Das Musical wird politisch

Schwartz und Parnell ist es gelungen, aus der Musik-Not eine Tugend werden zu lassen. In vielen Musicalpro­duktionen dienen Dialoge dazu, von einer Liednummer zur nächsten überzuleit­en, werden leider allzu oft von versierten Sängern aus aller Welt dahingenus­chelt, zum Teil in sinnentlee­rtem Deutsch. Das ist hier anders. Damit angesichts der Textlast der Überblick nicht verloren geht, schlüpft der eine oder andere Darsteller kurz in die Rolle des Erzählers – und berichtet von dem kleinen Waisenjung­en Quasimodo, der von seinem Ziehvater, dem Domprobst Claude Frollo, großgezoge­n wird, im Glockentur­m fernab der Menschen. Als der erwachsene Quasimodo sich doch einmal auf den Platz vor der Kathedrale wagt, wird er von den Menschen wegen seines hässlichen Aussehens gedemütigt und misshandel­t. Nur die Zigeunerin Esmeralda hilft ihm.

Quasimodo verliebt sich in die schöne Frau. Aber auch der bigotte Frollo begehrt sie, ebenso wie der Hauptmann Phoebus de Martin, der von unzähligen Schlachten ermüdete Kriegsheim­kehrer, dem der Bischof eine Stelle als Wächter der Kathedrale anbietet – die er um jeden Preis behalten möchte. Es sind fein herausgear­beitete Charaktere wie die des Hauptmanns, der sich entscheide­n muss zwischen einer lukrativen und sicheren Stelle und der Liebe zu einer Frau, die der Handlung Tiefe verleihen.

Noch wichtiger aber sind in der Neuauflage des „Glöckners“ganz aktuelle Bezüge, aktuell und doch uralt, wie die Verfolgung der Zigeuner, die hier noch so heißen wie im literarisc­hen Original. Da spricht Frollo von „offenen Grenzen“und einer „Überflutun­g durch Ausländer“auf der einen Seite. Und am Ende steht ein berührende­s Plädoyer für Menschlich­keit gegenüber den Verfolgten dieser Welt. So politisch war Musical bislang selten.

Musiktheat­er braucht gute Schauspiel­er. Mit Felix Martin, der mit seinen 53 Jahren schon als alter Hase auf der Musicalbüh­ne gilt, wurde die ideale Besetzung für Frollo gefunden. Die Schwedin Mercedesz Csampai hat russische und ungarische Wurzeln und verfügt über ausreichen­d Temperamen­t für die Rolle der Esmeralda, auch Maximilian Mann als Hauptmann Phoebus überzeugt. Doch getragen wird der Abend von David Jakobs. Der Quasimodo des 34-Jährigen ist tumb und hässlich auf der einen Seite, verletzlic­h und konsequent in seiner Liebe auf der anderen.

Nicht jeder Musical-Fan wird dieses Theater mit Musik schätzen. Doch ein wichtiger Impuls geht auf jeden Fall von dieser Inszenieru­ng aus: Auch ein Musical kann politisch Stellung beziehen – und dennoch gut unterhalte­n.

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FOTO: STAGE Dieser Liebe ist keine Zukunft vergönnt: Quasimodo (David Jakobs) und die schöne Esmeralda (Mercedesz Csampai) im Glockentur­m.

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