Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Türkische Armee beschießt Assads Truppen
Konflikt in der syrischen Region um Afrin eskaliert - Russland ruft Ankara zum Dialog auf
ISTANBUL/DAMASKUS (dpa) - Syriens fast siebenjähriger Bürgerkrieg ist am Dienstag innerhalb nur weniger Stunden an zwei Fronten eskaliert. Im Norden des Landes bombardierte die türkische Armee die Region Afrin, nachdem dort syrische Regierungskräfte zur Unterstützung kurdischer Truppen eingerückt waren, wie die staatliche syrische Nachrichtenagentur Sana gestern meldete. Im Zentrum Syriens erlebte das Rebellengebiet Ost-Ghuta eine der blutigsten Angriffswellen seit Beginn des Konflikts mit mehr als 200 Toten innerhalb von 48 Stunden.
In Afrin waren am Dienstag erste syrische Regierungskräfte eingerückt, wie die Kurdenmiliz YPG bestätigte. Die Einheiten von Präsident Baschar al-Assad sollten sich an der Verteidigung der Grenzen des Landes beteiligen. Türkische Truppen und syrische Verbündete hatten vor einem Monat eine Offensive begonnen. Das Gebiet um Afrin wird von der YPG kontrolliert.
Die Kurdenmiliz YPG ist mit der US-geführten Koalition im Kampf gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“in Nordsyrien verbündet. Die Türkei dagegen stuft die YPG wegen enger Verbindungen zur verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK als terroristisch ein und bekämpft sie. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hatte am Dienstag eine Belagerung Afrins angekündigt. Man werde das Stadtzentrum „in den nächsten Tagen“einschließen, sagte Erdogan.
Russlands Außenminister Sergej Lawrow warnte derweil vor einer Spaltung Syriens und forderte Ankara dazu auf, mit der Regierung in Damaskus zu reden. Es sei nicht hinnehmbar, wenn „das Kurden-Problem“dazu genutzt werde, Chaos in der Region zu säen, zitierte die Agentur Interfax Lawrow. Er betonte, Moskau habe Verständnis sowohl für den Standpunkt der Türkei als auch für den der Kurden.
LIMASSOL/ISTANBUL - Nachdem die kurdischen Volksverteidigungsmilizen bekannt gegeben hatten, gemeinsam mit der Assad-Armee die türkische Armee zu bekämpfen, hat es der türkische Präsident eilig. Zusätzliche Panzerverbände wurden in die Grenzprovinz verlegt. Gleichzeitig kündigte Recip Tayyip Erdogan die Belagerung der syrischen Großstadt Afrin an, in der mehr als 500 000 Menschen leben.
Die Türkei, das wird nun immer deutlicher, will im Norden Syriens vollendete Tatsachen schaffen. Genau einen Monat nach dem Beginn der Operation „Olivenzweig“möchte sich Erdogan seiner Bevölkerung, die den Einmarsch der Armee bislang mehrheitlich unterstützt, als großer Sieger präsentieren. „Die Terroristen“, prognostizierte der türkische Präsident am Dienstag, „werden bald keine Möglichkeit mehr zum Handeln haben.“
Syrische Einheiten beschossen
Regierungstreue syrische Einheiten seien bei ihrer Ankunft in Afrin mit Artilleriefeuer angegriffen worden, meldete die syrische Staatsagentur Sana. Türkische Medien sprachen von „Warnschüssen“. Die Regierungstruppen sollten Stellung an der Grenze zur Türkei beziehen, um sich, so die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG), „an der Verteidigung der territorialen Einheit Syriens und seiner Grenze zu beteiligen“. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte sprach von einem Konvoi mit Hunderten regierungstreuen Kämpfern. Erdogan drohte, „in den kommenden Tagen“ Afrin-Stadt unter Belagerung zu nehmen. Allerdings kommen die türkische Armee und verbündete syrische Rebellen wegen des heftigen Widerstands der YPG nur langsam voran. Laut der Beobachtungsstelle eroberten sie bisher nur 45 Dörfer in Grenznähe. Nach Angaben der oppositionsnahen Organisation wurden im Zuge der „Operation Olivenzweig“bisher 32 türkische Soldaten, 205 verbündete Rebellen, 219 kurdische Kämpfer und 112 Zivilisten getötet. Die Türkei weist Berichte über zivile Opfer vehement zurück. Für Medien sind die Zahlen der Beobachtungsstelle nicht zu überprüfen.
Syriens Machthaber Baschar alAssad ist derweil entschlossen, das ganze Staatsgebiet wieder unter seine Kontrolle zu bringen. Seine Truppen gehen seit Ende Dezember auch gegen die beiden Rebellenhochburgen Idlib und Ost-Ghuta vor. Offenbar steht die Armee kurz vor einer Bodenoffensive gegen die seit Jahren belagerte Enklave Ost-Ghuta nahe der Hauptstadt Damaskus.
Trotz eines internationalen Aufschreis bombardiert die syrische Armee Ost-Ghuta seit Tagen ohne Unterlass. Nachdem es am Montag laut der Beobachtungsstelle 127 Tote gegeben hatte, wurden auch am Dienstag 66 Menschen getötet, darunter 13 Kinder. Viele Einwohner flohen in Keller, die Krankenhäuser waren völlig überfüllt.
Medikamente gehen zu Ende
„Es war die Hölle“, sagte ein Arzt aus einem Krankenhaus in Ost-Ghuta über die Angriffe am Montag. „Wir mussten mit ansehen, wie Kinder in unseren Händen an ihren schweren Wunden gestorben sind, weil sie zu spät ins Krankenhaus kamen.“Die Kliniken seien völlig überfüllt. Narkosemittel und wichtige Medikamente gingen zu Ende. Bilder aus dem Rebellengebiet zeigten verstaubte Opfer unter den Trümmern zerstörter Häuser. Aktivsten verbreiteten Aufnahmen von getöteten Kindern.
Das Kinderhilfswerk Unicef zeigte sich entsetzt über die Angriffe auf schutzlose Zivilisten: „Keine Worte werden den getöteten Kindern, ihren Müttern, ihren Vätern und ihren geliebten Angehörigen gerecht“, erklärte Unicef-Generaldirektor Geert Cappelaere. Der UN-Hilfskoordinator Panos Mumtsis forderte ein sofortiges Ende der Luftangriffe. „Die humanitäre Lage der Zivilisten in Ost-Ghuta ist völlig außer Kontrolle“, erklärte er. Die Exilopposition warf Assads Truppen einen „Vernichtungskrieg“vor und kritisierte das „internationale Schweigen“angesichts der „Verbrechen“der syrischen Führung.