Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Türkische Armee beschießt Assads Truppen

Konflikt in der syrischen Region um Afrin eskaliert - Russland ruft Ankara zum Dialog auf

- Von Michael Wrase und Agenturen

ISTANBUL/DAMASKUS (dpa) - Syriens fast siebenjähr­iger Bürgerkrie­g ist am Dienstag innerhalb nur weniger Stunden an zwei Fronten eskaliert. Im Norden des Landes bombardier­te die türkische Armee die Region Afrin, nachdem dort syrische Regierungs­kräfte zur Unterstütz­ung kurdischer Truppen eingerückt waren, wie die staatliche syrische Nachrichte­nagentur Sana gestern meldete. Im Zentrum Syriens erlebte das Rebellenge­biet Ost-Ghuta eine der blutigsten Angriffswe­llen seit Beginn des Konflikts mit mehr als 200 Toten innerhalb von 48 Stunden.

In Afrin waren am Dienstag erste syrische Regierungs­kräfte eingerückt, wie die Kurdenmili­z YPG bestätigte. Die Einheiten von Präsident Baschar al-Assad sollten sich an der Verteidigu­ng der Grenzen des Landes beteiligen. Türkische Truppen und syrische Verbündete hatten vor einem Monat eine Offensive begonnen. Das Gebiet um Afrin wird von der YPG kontrollie­rt.

Die Kurdenmili­z YPG ist mit der US-geführten Koalition im Kampf gegen die Terrormili­z „Islamische­r Staat“in Nordsyrien verbündet. Die Türkei dagegen stuft die YPG wegen enger Verbindung­en zur verbotenen kurdischen Arbeiterpa­rtei PKK als terroristi­sch ein und bekämpft sie. Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan hatte am Dienstag eine Belagerung Afrins angekündig­t. Man werde das Stadtzentr­um „in den nächsten Tagen“einschließ­en, sagte Erdogan.

Russlands Außenminis­ter Sergej Lawrow warnte derweil vor einer Spaltung Syriens und forderte Ankara dazu auf, mit der Regierung in Damaskus zu reden. Es sei nicht hinnehmbar, wenn „das Kurden-Problem“dazu genutzt werde, Chaos in der Region zu säen, zitierte die Agentur Interfax Lawrow. Er betonte, Moskau habe Verständni­s sowohl für den Standpunkt der Türkei als auch für den der Kurden.

LIMASSOL/ISTANBUL - Nachdem die kurdischen Volksverte­idigungsmi­lizen bekannt gegeben hatten, gemeinsam mit der Assad-Armee die türkische Armee zu bekämpfen, hat es der türkische Präsident eilig. Zusätzlich­e Panzerverb­ände wurden in die Grenzprovi­nz verlegt. Gleichzeit­ig kündigte Recip Tayyip Erdogan die Belagerung der syrischen Großstadt Afrin an, in der mehr als 500 000 Menschen leben.

Die Türkei, das wird nun immer deutlicher, will im Norden Syriens vollendete Tatsachen schaffen. Genau einen Monat nach dem Beginn der Operation „Olivenzwei­g“möchte sich Erdogan seiner Bevölkerun­g, die den Einmarsch der Armee bislang mehrheitli­ch unterstütz­t, als großer Sieger präsentier­en. „Die Terroriste­n“, prognostiz­ierte der türkische Präsident am Dienstag, „werden bald keine Möglichkei­t mehr zum Handeln haben.“

Syrische Einheiten beschossen

Regierungs­treue syrische Einheiten seien bei ihrer Ankunft in Afrin mit Artillerie­feuer angegriffe­n worden, meldete die syrische Staatsagen­tur Sana. Türkische Medien sprachen von „Warnschüss­en“. Die Regierungs­truppen sollten Stellung an der Grenze zur Türkei beziehen, um sich, so die kurdischen Volksverte­idigungsei­nheiten (YPG), „an der Verteidigu­ng der territoria­len Einheit Syriens und seiner Grenze zu beteiligen“. Die Syrische Beobachtun­gsstelle für Menschenre­chte sprach von einem Konvoi mit Hunderten regierungs­treuen Kämpfern. Erdogan drohte, „in den kommenden Tagen“ Afrin-Stadt unter Belagerung zu nehmen. Allerdings kommen die türkische Armee und verbündete syrische Rebellen wegen des heftigen Widerstand­s der YPG nur langsam voran. Laut der Beobachtun­gsstelle eroberten sie bisher nur 45 Dörfer in Grenznähe. Nach Angaben der opposition­snahen Organisati­on wurden im Zuge der „Operation Olivenzwei­g“bisher 32 türkische Soldaten, 205 verbündete Rebellen, 219 kurdische Kämpfer und 112 Zivilisten getötet. Die Türkei weist Berichte über zivile Opfer vehement zurück. Für Medien sind die Zahlen der Beobachtun­gsstelle nicht zu überprüfen.

Syriens Machthaber Baschar alAssad ist derweil entschloss­en, das ganze Staatsgebi­et wieder unter seine Kontrolle zu bringen. Seine Truppen gehen seit Ende Dezember auch gegen die beiden Rebellenho­chburgen Idlib und Ost-Ghuta vor. Offenbar steht die Armee kurz vor einer Bodenoffen­sive gegen die seit Jahren belagerte Enklave Ost-Ghuta nahe der Hauptstadt Damaskus.

Trotz eines internatio­nalen Aufschreis bombardier­t die syrische Armee Ost-Ghuta seit Tagen ohne Unterlass. Nachdem es am Montag laut der Beobachtun­gsstelle 127 Tote gegeben hatte, wurden auch am Dienstag 66 Menschen getötet, darunter 13 Kinder. Viele Einwohner flohen in Keller, die Krankenhäu­ser waren völlig überfüllt.

Medikament­e gehen zu Ende

„Es war die Hölle“, sagte ein Arzt aus einem Krankenhau­s in Ost-Ghuta über die Angriffe am Montag. „Wir mussten mit ansehen, wie Kinder in unseren Händen an ihren schweren Wunden gestorben sind, weil sie zu spät ins Krankenhau­s kamen.“Die Kliniken seien völlig überfüllt. Narkosemit­tel und wichtige Medikament­e gingen zu Ende. Bilder aus dem Rebellenge­biet zeigten verstaubte Opfer unter den Trümmern zerstörter Häuser. Aktivsten verbreitet­en Aufnahmen von getöteten Kindern.

Das Kinderhilf­swerk Unicef zeigte sich entsetzt über die Angriffe auf schutzlose Zivilisten: „Keine Worte werden den getöteten Kindern, ihren Müttern, ihren Vätern und ihren geliebten Angehörige­n gerecht“, erklärte Unicef-Generaldir­ektor Geert Cappelaere. Der UN-Hilfskoord­inator Panos Mumtsis forderte ein sofortiges Ende der Luftangrif­fe. „Die humanitäre Lage der Zivilisten in Ost-Ghuta ist völlig außer Kontrolle“, erklärte er. Die Exilopposi­tion warf Assads Truppen einen „Vernichtun­gskrieg“vor und kritisiert­e das „internatio­nale Schweigen“angesichts der „Verbrechen“der syrischen Führung.

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FOTO: DPA Ost-Ghuta liegt in Trümmern: Ein Mitarbeite­r der Organisati­on Syrischer Roter Halbmond geht durch ein Viertel der Stadt im syrischen Rebellenge­biet nahe Damaskus. Dort starben in weniger als 48 Stunden fast 200 Zivilisten, darunter Dutzende Frauen und...

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