Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Im Bauch der deutschen Geschichte
Die Zeitzeugen der „Landshut“-Entführung versetzen das Publikum im Dorniermuseum in eine dramatische Vergangenheit
FRIEDRICHSHAFEN - In dieser undurchdringlichen Düsternis, in der beklemmenden Enge werden die Menschen für kurze Zeit plötzlich sehr still. Im zylindrischen Innenraum der „Landshut“erinnert der Geruch an einen ranzigen Heizölkeller. Doch das ist nichts gegen den Gestank, der damals nach fünf langen Tagen der Entführung ohne Toilette unter der stechenden Sonne Mogadischus geherrscht haben muss. Die Scheiben des Cockpits sind blind und lassen kaum Licht herein. Eine Teilnehmerin der Führung vergisst darüber für einen Moment das unablässige Hantieren an ihrem Fotoapparat. Aber nur für einen Augenblick. Dann schießen sie und die kleine Gruppe wieder aus allen Objektiven der Handys und Kameras. Als könne man den Moment, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart in dieser zugigen Friedrichshafener Halle treffen, wirklich festhalten.
Blitze setzen den von der Bestuhlung freien Passagierraum unter dramatische Lichtfetzen, bis Jürgen Vietor, der damalige Co-Pilot der „Landshut“, die Maschine betritt. Das Blitzlicht der Kameras lässt seinen königsblauen Pullover aufleuchten, und seine Stimme klingt, als schildere sie eine unwichtige Belanglosigkeit, eine Beiläufigkeit ohne besondere Dringlichkeit: „Da saßen wir also, gefesselt und übergossen mit dem Duty-Free-Schnaps, damit wir im Zweifel gut brennen würden.“Bei diesem Satz hält die Dame mit dem Fotoapparat wieder inne und saugt die Luft in einem spitzen Zischen zwischen den Zähnen ein. Und einem älteren Herrn entfährt es: „Das sieht aber viel kleiner aus, als ich mir das vorgestellt habe.“
In dieser verletzlichen Hülle aus Stahl und Nieten waren 1977 auf dem Rollfeld von Mogadischu 85 Passagiere und die Besatzung einer Handvoll Terroristen ausgeliefert. Diese Zeit markiert den Höhepunkt des Deutschen Herbstes. Mit der Aktion sollten RAF-Terroristen freigepresst werden. Was sich in den Geschichtsbüchern eigenartig distanziert und entrückt liest, wird im Bauch dieses Flugzeugs, das da flügellos in der Halle W steht, mit einem Mal lebendig. Natürlich auch durch die Ausführungen von Aribert Martin, der damals Mitglied im Einsatzkommando der GSG 9 war, das die Geiselnahme letztendlich beendet hat. „Durch diese Tür bin ich hinein“, sagt Martin und deutet mit dem Zeigefinger auf die geschlossene Öffnung rechts am Heck der „Landshut“. Die Augen folgen seinem Finger. Die Seite der Maschine, an der normalerweise die Flügel angebracht sind, wirkt wie eine große offene Wunde. Die Tragflächen lagern entfernt vom Rumpf ebenfalls in der Halle.
Diana Müll, die zunächst ein bisschen abseits steht, war auch schon drin in der „Landshut“. Sie ist Zeitzeugin und war damals im Alter von 19 Jahren bei der Entführung auf der Rückreise von Mallorca dabei. „Meine erste richtige Partyreise“, sagt sie, ohne dabei zu lächeln. Nach den traumatischen Erlebnissen in diesem Flugzeug, das da wie ein gestrandeter Wal vor ihr liegt, mit einer rauen und verwitterten Hülle, hat es zehn Jahre gedauert, bis sie wieder einen Fuß in eine Maschine gesetzt hat. Hat sie abgeschlossen mit dieser Sache? „Sagen wir lieber, ich habe es angenommen.“Etwas, das sie schon früher hätte tun sollen. Dann wäre sie nicht so krank geworden, glaubt Diana Müll, die als junge Frau erst nach einem Jahr der Therapie umzugehen gelernt hat mit dieser Monstrosität von Ausnahmesituation. Wie das bewältigen? Wie damit weiter existieren? Die fünf Tage haben Diana Müll nicht zerstören können. „Ich arbeite, ich habe Enkel“, sagt sie und strahlt etwas Heiteres bei diesen Worten aus.
Am Ende der Führung, die eigentlich eine halbe Stunde hätte dauern sollen und dann doch fast 90 Minuten lang geht, spricht David Dornier, der Direktor des Dorniermuseums, zu der Gruppe, die aus Lesern der „Schwäbischen Zeitung“besteht. Und es hat beinah etwas Feierliches: „Wir haben die Verantwortung, die Erinnerung zu bewahren, wie damals eine junge Bundesrepublik und die Demokratie herausgefordert wurden.“Dornier macht an der künftigen Ausstellung der „Landshut“, die nach dem Wunsch des Museums in einer eigens dafür zu bauenden Halle 2019 für die Öffentlichkeit zugänglich sein soll, die ganz großen Fragen der Geschichte fest: das Erbe der RAF, die PLO. Die Schleyer-Entführung. Den Deutschen Herbst. Die Frage, ob ein Staat sich erpressen lassen darf. All diese existenziellen Marksteine, die zur DNA der Bundesrepublik Deutschland gehören, finden im Wrack der Landshut ihr Denkmal.
Niemand kann beredter von damals erzählen als jene Menschen, die das Martyrium Mogadischu selbst durchlitten haben, wie sich zwei Stunden später in den mit 400 Zuhörern gefüllten Hallen des Museums zeigt: Auf dem Podium haben die Zeitzeugen Platz genommen. Joachim Umbach, der ehemalige Chefredakteur der „Schwäbischen Zeitung“, moderiert diese Runde, die sich dem schmerzhaften Kern des Dramas annähert. Der Titel: „Landshut der Talk – wie es wirklich war“.
„Da saßen wir also, gefesselt und übergossen mit dem Duty-Free-Schnaps, damit wir im Zweifel gut brennen würden.“
Co-Pilot Jürgen Vietor
Und wie es wirklich war, ist schwer auszuhalten – für die Zeitzeugen und fürs Publikum: Für Jürgen Vietor etwa, der als Co-Pilot bei der Erschießung seines Kapitäns Jürgen Schumann zusehen musste und der selbst zweimal hätte erschossen werden sollen. Für Diana Müll, die mit eindringlicher Schmerzhaftigkeit schildert, wie sie vor einem der Entführer kniend auf ihren Tod wartete. Wie der Mann zu zählen begann und sie bei zehn eigentlich eine tödliche Kugel treffen sollte. Wie die Flugbegleiterin von damals, Gabriele von Lutzau, noch heute nach all der Bewältigungsarbeit wütend von der Bühne ruft, als säßen die Terroristen noch irgendwo im Publikum: „Ich lass mir von solchen Idioten nicht mein Leben diktieren!“
Schwer erträglich auch das Grauen, wenn eine weitere Passagierin von damals, Jutta Knauff, davon spricht, wie sie eine Kette, in der die Bilder ihrer Kinder verborgen waren, nicht den Terroristen aushändigte, sondern unter Todesgefahr zwischen den Sitzen versteckte. Damit sie sie während der fünf unerträglichen Tage in die Hand nehmen konnte, um Kraft aus den Bildern zu schöpfen. Auch die Erzählung von Aribert Martin ist aufwühlend, weil der fast zierlich wirkende GSG-9Mann beim Sturm der Maschine seine Erinnerungen auch nur unter Tränen an die den Atem anhaltenden Menschen im Publikum geben kann.
Es sind lebendige Eindrücke, die die Zeitzeugen an diesem Abend schildern. Und ihre Berichte treffen auf Menschen, die sich an die fünf Tage 1977 in ähnlicher Weise erinnern wie später Geborene an den 11. September 2001. Bald sind die Tränen der Menschen auf dem Podium auch die Tränen der Zuhörer, die Anteil nehmen an dieser öffentlichen Aufarbeitung eines Verbrechens, das zu einer Narbe auf der Seele der Bundesrepublik geworden ist.
In diesen Momenten bekommen die Worte David Dorniers einen anderen Klang, wenn er sagt, dass er die „Landshut“nicht einfach nur zeigen wolle, sondern mit ihr die Entstehungsgeschichte des jüngeren Deutschlands bis in unsere Gegenwart, zu deren Entwicklung eben auch dieses stählerne Ungetüm in Halle W gehört.
Dass in dieser Tragödie, nach der sich die Opfer vom Staat übrigens mutterseelenallein gelassen fühlten, auch Situationskomik steckt, die das ergriffene Publikum zum befreienden Lachen bringt, ist eine Überraschung. Wenn Jürgen Vietor aber die Geschichte jenes Passagiers erzählt, der, kurz bevor die Entführer sich zu erkennen gaben, noch frohgemut in der Toilette verschwunden war und sich bei seiner Rückkehr plötzlich einer Menschenmasse mit hochgerissenen Händen gegenüber sah, ist das einfach zu komisch. „Das Gesicht hätten Sie sehen sollen.“
Am Ende zollt das Publikum den Geiseln von damals stehend klatschend Respekt. Für ihre Stärken ebenso wie für ihre durchlittenen Schwächen. Vielleicht auch aus Erleichterung, nicht selbst in dem Flugzeug gesessen zu haben. Für den Mut und für den Trotz der Geiseln, ihr Leben zu meistern – auch gegen eine Gesellschaft, die ihr Leid sehr bald vergaß und phasenweise sogar geringschätzte. Ein Leben, das ganz leicht am 18. Oktober vor oder während der Erstürmung um 0.05 Uhr hätte zu Ende sein können. So aber war dieser Zeitpunkt der Anfang einer Geschichte, die auch mit der Ausstellung der „Landshut“in Friedrichshafen noch lange nicht zu Ende erzählt sein wird.